Mehr Rückhalt
Leutkirch – Das Fronleichnamshochwasser Anfang Juni ist vorbei, aber nicht vergessen. Wetterkundige warnen, ähnliche Ereignisse wie das jüngste Hochwasser (Juni 2024) seien künftig nicht auszuschließen. Zwar hat das Rückhaltesystem bei Urlau gehalten. Aber erkennbar war: Es ist auf „Kante genäht“. Man kommt wohl nicht umhin, dort nachzurüsten. Überlegungen zum Bändigen des Wassers hat es auch in früherer Zeit gegeben. Julian Aicher, Reporter der Bildschirmzeitung „Der Leutkircher“ und selbst ein Wasser-Bewirtschafter – er betreibt in Rotis ein kleines Wasserkraftwerk – weiß von ganz konkreten Plänen bei Schmidsfelden. Um 1920 war das. Bedenkenswert sind sie auch heute noch.
Archivbild (bei Christmann).
Wie (zu) starke Fluten vermeiden? Durch zurückhalten dort, wo es niemanden gefährdet. Zum Beispiel im Rückhaltebecken Urlau. Grundsätzlich sagte ARD-Wetterfrosch Sven Plöger schon 2023: „Wasser muss bleiben. Wir müssen es an allen möglichen Stellen zurückhalten.” Mit dieser Forderung steht der ARD-Wetterkünder nicht alleine. Was Plöger 2023 anmahnte, ist seit Jahrzehnten bekannt.
Rotismühle, September 1975. Otl Aicher hat Fachleute zum Seminar „Sport und Design“ eingeladen. Einer von Ihnen: Günther Grzimek. Der Landschaftsarchitekt hatte unter anderem den Friedhof Weingarten umgestaltet. International bekannt wurde Grzimek durch seine Planung der olympischen Grünanlagen in München 1972. Für das Rotiser Seminar „Sport und Design” notierte Grzimek in Kleinschreibung: „wir müssen also versuchen landschaften zu schaffen, wie es die landwirte auf ihre weise vorgemacht haben. in diesen landschaften gibt es neue wasserflächen: seen, teiche, bäche, sümpfe. wasser ist ja genug da. wir müssen es, wie die bauern früher sagten, „in der hand halten“ – also nicht fortkanalisieren sondern anhalten – dabehalten.“
Ein Rückhalte-Stausee oberhalb von Schmidsfelden?
Beachtliche Möglichkeiten. Aus den Blickwinkeln von Grzimek und Plöger betrachtet, schlummert da in und um Leutkirch noch Vielversprechendes. Etwa Eschachtal-oberhalb von Schmidsfelden. Der Eisenbahningenieur Julius Balthasar Christmann heiratete vor gut 100 Jahren nicht nur in die ehemalige Glasmacherfamilie Schmidsfelden ein, sondern plante dort großes: eine Papierfabrik in Schmidsfelden. Industrie – angetrieben von jener Energie, die damals viele süddeutsche Unternehmen in Schwung hielt: Wasserkraft. Dazu beantragte Christmann 1920 die Baugenehmigung.
Sein Nachfahre Roman Christmann zeigt besonders Interessierten noch heute diese Dokumente. Mit schönen Gebäude-Abbildungen (siehe Fotos und siehe Videohinweise unter diesem Text). Julius Balthasar Christmann wollte 1920 Eschach und Kürnach in einem großen Stausee vereinigen. Direkt tal-oberhalb Schmidsfeldens, Richtung Kreuzthal-Eisenbach. Dieser See hätte das tosende Nass für die Turbinen liefern können, wenn’s die Papierfabrik brauchte. Die Pläne von 1920 – wohl nicht verwirklicht wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten wie der Inflation von 1923.
Warum nicht heute – gut 100 Jahre später – Christmanns geniale Idee aufgreifen? Für einen neuen Stausee tal-oberhalb Schmidsfeldens? Der könnte einerseits wuchtige Tropfen dann in neue Turbinen treiben lassen, wenn viel Strom gebraucht wird. Stichwort: „energy on demand“ – Energie auf Abruf. Andererseits ließe sich der See mit moderner Technik so „steuern“, dass er Wasser v o r starkem Regen ablässt – und anschließend einen Teil heutiger Hochwässer zurückhält. Ähnlich der großen Vertiefung bei Urlau.
Wer weiß: Vielleicht böte sich ein Teil der Ufer dieses neuen Sees bei Schmidsfelden ja zum Baden an? Ein Hochwasser-verminderndes Modell ähnlich dem bereits funktionierenden Brombachsee in Bayern-Franken. Ausflugsziel für Schwimm-Begeisterte. Auch der dortige Auslauf ist mit einem Wasserkraftwerk aufgewertet.
Die Hochwässer in und um Leutkirch 2013 und 2024 – kommen da noch ähnliche Fluten? Und falls ja: Wann – und wie stark? Meine Frau Christine sagte zu den 53 Zentimetern Nass in unserem Rotiser Keller am 1. Juni 2024: „Ich habe den Eindruck, das war höher als 2013.“ Könnte es also künftig auch heftiger steigen? Gar die Hauswände bedrohen? Ereignisse wie die Sturzflut im oberbayerischen Simbach oder gar die Ahrtal-Katastrophe 2021 zeigen, dass sich Deutschland da auf mehr Gefahren einstellen muss. Vielleicht will das noch nicht jede und jeder wahrhaben. Aber es mehren sich doch Stimmen derjenigen, die die Bedrohungen sehen. Auch Leute, die die Möglichkeiten erkennen. Wie hieß der Werbespruch eines Energiekonzerns wohl in den 1970er Jahren: „Es gibt viel zu tun. Packen wir’s an.“
Julian Aicher
Videohinweise zu diesem Text
„Wie steht es um das Klima? Sven Plöger und Peter Wohlleben im Gespräch.” ARD-Sendung „Maischberger” vom 12. Juli 2023:
https://www.youtube.com/watch?v=Bc3azA_gWw0
Verdoppelung der Strommenge aus Wasserkraft – am Beispiel Rot an der Rot
https://www.youtube.com/watch?v=_T0M6nd6cx4&t=3s
Das Glasmacherdorf Schmidsfelden
Link unten
Win – Wasserkraft ist naturverträglich, darin auch ein Gespräch mit Ernst Ulrich von Weizsäcker zur Wasserkraft:
https://www.youtube.com/watch?v=cfRU98a2TFA
„Brombachsee als Wasser-Spender: Wasser wird abgelassen”, Bayerischer Rundfunk, Fernsehen. In YouTube ab 20.Juli 2022:
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Interview mit Julian Aicher zu Wasserkraft
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Repros: privat