Die Flüchtlinge packten an und bauten am Wirtschaftswunder
Leutkirch – Sonntagabend, 7. Juli, kurz nach 19.00 Uhr im „Bock“-Saal in Leutkirch. Eröffnung der Ausstellung „Angekommen. Die Integration der Vertriebenen in Deutschland”. Die Heimatpflege Leutkirch hatte eingeladen. Sie bietet eine Schau, die an Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert. Bürgermeisterin Christina Schnitzler spricht bei ihrer Begrüßung davon, dass darüber „nicht so oft geredet worden ist”. Und Heimatpflege-Vorsitzender Michael Waizenegger weiß auch, dass das Thema „nicht so oft bewusst” wahrgenommen werde im Deutschland des Jahres 2024. Umso aufmerksamer lauschen die über 90 Leute im Saal dem Landtagsabgeordneten Raimund Hader (CDU). Seine Familie gehörte zu den damals Geflohenen.
„Was hat das mit mir zu tun?”. Raimund Haser (Bild) erläutert das Thema weniger als hauptamtlicher Politiker, sondern als Mitglied einer Familie, die nach 1945 aus einem Landstrich (heute auf serbischem Staatsgebiet) nahe der Batschka nach Deutschland vertrieben wurde. Haser zeigt sich dabei aber auch als Zweiter Vorsitzender des Bundes der Vertriebenen. Dort erfahre er in unzähligen Gesprächen „Dinge, die ich nicht wusste”.
Zwölf Millionen
„Angekommen“ in Deutschland: Das sind zwischen 1945 und 1950 mehr als zwölf Millionen deutschstämmige Menschen. Viele davon unter Gewaltandrohung und -anwendung vertrieben aus ihren Heimatländern in Osteuropa. Der Balkan, in dem Hasers Familie damals gelebt hatte, sei davon „sehr hart getroffen” gewesen, berichtet Raimund Haser bei der Ausstellungseröffnung „Angekommen”. Im erwähnten Bereich der Donauschwaben lebten bis damals etwa 200.000 Deutsche. 60.000 von ihnen überlebten die Vertreibung nicht, sagt der Abgeordnete.
Die Herkunftsgegend seiner Familie: nahe der Landschaft Batschka. Die, die dort wohnten, galten als „Batschaken“. Das Wort wandelte sich später im Westen. Meist eher abschätzig geäußert. Viele solcher „Begrifflichkeiten” seien „heute nicht mehr da”, sagt Raimund Haser. Also nicht ganz leicht nachvollziehbar für Jüngere. Umso mehr freut er sich: „Das Interesse der Enkel wächst.”
Und dies trotz „vieler Verständnisprobleme”: Zu ihnen gehöre, „dass er Westen es gewohnt ist, in Nationen zu leben – und der Osten in Völkern”. Das bringe es mit sich, „dass der Osten jedem seine Sprache lässt”. Haser bringt es auf den Punkt: „Wenn wir ehrlich sind, haben wir keine Ahnung von Osteuropa.” Eher keine leichte Grundlage, wenn „unbedingter Friedenswille” das eigene Denken beherrsche.
Zwölf Millionen Vertriebene aus Osteuropa. Dazu kommt einer erhebliche Anzahl entwurzelter Personen, sogenannter Displaced Persons. Sie alle kamen zwischen 1945 und 1950 nach Deutschland. Also in einen Staat, der gerade einen Weltkrieg verloren hatte. In ein Land, das kaum noch eine Großstadt ohne schwerste Bomben-Zerstörungen kannte. Raimund Haser berichtet von schlimmen Schicksalen. Etwa tote Menschen in einem Viehwaggon. Die Integration der Gekommenen war eine enorme Aufgabe. Für Redner Raimund Haser im „Bock“-Saal ein „Wunder”, dass damals zwischen Einheimischen und hierher Geflohenen kein Bürgerkrieg ausbrach. Im Endergebnis eher das Gegenteil: Industrie und Gewerbe erkannten in den Flüchtlingen eine Heerschar von vor allem Jüngeren, die keine Arbeit scheuten, um in ihren neuen Wohnorten Wurzeln fassen zu können. „Das Wirtschaftswunder in Deutschland – es wäre ohne die Flüchtlinge nicht möglich gewesen”, betont Haser.
„Der Hitler hat mir alles genommen”
„Angekommen“ – so der Obertitel der Ausstellung im Museum im Bock in Leutkirch. Sie ist sich dort noch bis 14. August zu sehen. „Ankommen – und Anpacken” könnte die Schau auch heißen. Dabei scheuten die Angekommenen keine Arbeit – und auch keine Mühen, auf anderen Wegen Zukunft möglich zu machen. Etwa im Wunsch vieler Vertriebenen, an einem friedlichen, ja an einem vereinten Europa politisch mitzuarbeiten. Das sei ihnen alles andere als leichtgefallen. Etwa wegen des verlorenen Eigentums. Wie lange lohnte sich der Kampf um diese alten Besitzrechte? Raimund Haser betont im „Bock“-Saal: „Man kann die Geschichte der Vertreibung nicht erzählen, ohne die Ursache zu nennen.” Und diese Ursache habe ein alter Mann, aus dem Osten einst vertrieben, dem jungen Raimund Haser mit diesem Satz benannt: Der Hitler hat mir alles genommen.”
Die Charta – ein Brückenschlag
Umso erstaunlicher, dass Vertriebenen-Verbände in ihrer berühmten Charta am 5. August 1950 öffentlich erklärten: „Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung.” Mehr noch: „Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist.” Aktuell erkennbar: immer wieder ein neues Beginnen. Der Applaus für Raimund Haser tönte lange im „Bock“-Saal.
Die Ausstellung „Angekommen – Die Integration der Vertriebenen in Deutschland” ist noch bis 14. August im Museum im Bock zu sehen.
www.heimatpflege-leutkirch.de
Text und Fotos: Julian Aicher