Als Otto Siebler Vollzug melden wollte, war keiner mehr da

Diepoldshofen – Heimatforscher Artur Angst (1914 – 1992) schreibt über die Zeit nach der Erschießung der 15 Soldaten, welche am Nachmittag des 26. April 1945 im Wald zwischen Diepoldshofen und Bauhofen erfolgt war, Folgendes (Folge 3 unserer Serie); die Zwischentitel wurden von der Redaktion der Bildschirmzeitung eingefügt.
Erschießung und Beisetzung dauerten zwei Stunden
Die Exekution hatte einschließlich der Beisetzung der Toten in den zuvor ausgehobenen Graben etwa zwei Stunden gedauert. Siebler kehrte danach mit dem Exekutionskommando zu seiner Einheit in die Grössermühle zurück und übergab den Befehl über seine Leute dem Stabsfeldwebel Ehlert mit dem Auftrag, in Richtung Leutkirch-Kempten abzumarschieren. „Bei dieser Gelegenheit gab Siebler der Truppe bekannt, dass die Erschießungen vorgenommen worden seien, erwähnte aber unwahrerweise, dass diese durch Soldaten einer anderen Einheit durchgeführt worden seien; er tat dies angeblich, um Unruhe und unliebsame Angriffe auf das Bewachungspersonal zu vermeiden.“10
Dass strafgefangene Wehrmachtsangehörige im Wald exekutiert worden waren, das wußte am Abend des 26. April in Diepoldshofen außer den Grössers eigentlich niemand genau. Zwar hatten im Hause Bank deutsche Soldaten eine derartige Vermutung recht bestimmt ausgesprochen, aber sichere Kenntnis von dem Vorgefallenen hatte man nicht.
Ebenso hatte auch Frau Bertha Angele nur unbestimmte Kunde bekommen von etwas Grausigem, das in der Nähe passiert sei. Bei ihr war am späten Nachmittag des 26. April eine kleine Gruppe deutscher Soldaten eingetroffen – etwa fünf bis sechs Mann – und fragte um Quartier für die kommende Nacht. Ihr Weg hatte sie aus Richtung Bauhofen nach Diepoldshofen geführt. Sie trugen Gewehre und hatten einen Lkw bei sich. In der Stube erzählten sie, sie hätten eben etwas Furchtbares gesehen, machten aber keine weiteren Angaben. Frau Angele versuchte nicht, mehr von den Soldaten zu erfahren. Sie spürte, dass die Männer nichts Weiteres sagten wollten. Auch hatte sie andere Sorgen genug, die sie bedrängten. Dies und die am übernächsten Tag (28. April) völlig geänderte Lage – französische Truppen besetzten das Dorf – nahmen die Aufmerksamkeit so in Anspruch, dass für Frau Angele die dunklen Andeutungen der genannten deutschen Soldaten in den Hintergrund traten.
So war es am Abend des 26. April auch bei den anderen Bewohnern in Diepoldshofen, die von der Erschießung deutscher Soldaten im nahen Wald etwas wussten oder etwas Derartiges annehmen mussten.
Aber vergessen war der Vorgang nicht. Auch nicht beim Ortspfarrer Alfons Lamprecht. Er hatte noch am späten Abend dieses Tages Kunde davon erhalten. Ein Major Burkhardt, aus Gammertingen gebürtig, war bei ihm im Quartier. Dieser habe ihm berichtet, dass auf Befehl des Kommandanten, eines Hauptmanns, „eine Anzahl der Sträflinge am Eingang des Diepoldshofener Waldes erschossen worden sei.“ Major Burkhardt sei am anderen Morgen (27. April) früh fünf Uhr nach Kempten abgefahren, um, „wie er sagte, beim Oberkriegsgericht von der Sache Mitteilung zu machen und womöglich weitere derartige Greueltaten zu unterbinden.“11
Abmarsch der Gefangeneneinheit aus Diepoldshofen
Die Gefangeneneinheit Siebler war am Abend des 26. April gegen acht Uhr abmarschbereit. Die Männer hatten ihren Bauernleiterwagen mit einem Ochsen bespannt und marschierten unter dem Kommando ihres Stabsfeldwebels Ehlert in der befohlenen Richtung Leutkirch-Kempten ab. Siebler selbst war bereits früher in seinem Pkw mit einem Unteroffizier weggefahren und zwar, wie er angab, zurück in Richtung Ravensburg, um den Standort des Gerichtes des AOK 19 zu erkunden und dort den Vollzug der Exekution zu melden. Er erfuhr aber, dass sich die gesuchte Dienststelle nicht mehr im Raume Ravensburg befand. So kehrte er um und traf zwischen Leutkirch und Kempten wieder auf seine Einheit, kam mit ihr am 27.4. durch Kempten und quartierte sich mit seinen Leuten in der Nacht vom 27.4. auf den 28.4. in der Nähe von Durach ein. Von dort aus suchte er am 28.4. allein das Gericht des AOK 19 zu erreichen, um die Vollstreckung des Hinrichtungsbefehls zu melden und die letzten Briefe der Erschossenen zu übergeben. Er fand schließlich seine Dienststelle in einer Ortschaft (Wagneritz) in der Nähe von Immenstadt, traf dort aber nur noch ein paar Stabshelferinnen beim Packen an. Weder ein Richter noch andere Offiziere waren mehr zu finden. Siebler übergab die Post der Erschossenen einer der Stabshelferinnen, eine schriftliche Vollzugsmeldung erstattete er unter den gegebenen Umständen nicht mehr.12
Plötzlich waren die Bewacher verschwunden
Über das weitere Schicksal von Siebler und dessen Einheit lässt sich aus der Einstellungsverfügung nichts entnehmen. Dagegen konnte Herr Joos noch von der Auflösung der Gefangeneneinheit berichten. Etwa zwei Wochen, nachdem die Gefangenen mit ihren Bewachern aus Diepoldshofen abgezogen waren, seien eines Morgens zwei Deutsche in Zivil in der Grössermühle aufgetaucht. Der eine habe von sich gesagt, er sei Dozent bei Professor Hausmann an der Kölner Werkschule für Kunstgewerbe gewesen. Er habe eine Mappe mit Fotografien von Gemälden bei sich gehabt, die er gemalt haben wollte. „Er war ein großer Mann und hatte eine schneidige Schrift. Er stellte sich als „Mump“ oder so ähnlich vor. Ich glaubte aber den Berufsangaben des Mannes nicht so recht. Denn wieso sollte ein Dozent an der Kölner Werkschule für Kunstgewerbe sich ausgerechnet als Kunstmaler betätigen?“, meinte Herr Joos. Der zweite der Ankömmlinge war von Beruf Bergmann und auffallend schweigsam gegenüber seinem sehr beredten Kameraden.
Das eigentlich Wichtige aber an ihrem Erscheinen war für Herrn Joos, dass sie berichteten, sie hätten zu der Gefangenenkompanie gehört, die kürzlich in der Grössermühle Quartier bezogen habe. Sie seien von Diepoldshofen noch bis Sonthofen (Allgäu) gekommen. Dort seien dann die Bewacher mit einem Mal verschwunden gewesen und sie, die Gefangenen, allein dagestanden. Darauf seien sie jeder seine eigenen Wege gegangen. Die beiden Männer berichteten Herrn Joos auch ihnen bekannte Einzelheiten vom Erschießungstag. Es seien vier und dann weitere elf zum Tod verurteilte Gefangene ihrer Einheit im nahen Wald erschossen worden. Man habe die Toten in zwei Gruben nahe der Hinrichtungsstätte nur wenig tief eingegraben. Eigentlich seien sechzehn von ihnen zum Erschießen bestimmt gewesen, aber einer habe noch entkommen können, das heißt, er sei, als es zur Hinrichtung gehen sollte, verschwunden gewesen (Bestätigung dieses Berichts durch die Beobachtung von Herrn Sauter und Herrn Grösser).
Aufgrund dieser Mitteilungen der ehemaligen Gefangenen glaubte Herr Joos nun sicher sagen zu können, dass am 26. April am Vormittag und am Nachmittag je ein Teil der fünfzehn Hingerichteten erschossen worden sei. Das ist, wie wir heute bestimmt wissen, unzutreffend. Die fünfzehn Toten waren alle am Nachmittag exekutiert worden. Man versorgte die beiden ehemaligen Wehrmachtgefangenen in der Grössermühle noch mit weiterer Zivilkleidung. Danach machten sie sich wieder auf den Weg.
Die Soldatengräber im Wald werden gefunden
Zu dieser Zeit waren schon rund zwei Wochen französische Besatzungstruppen im Dorf. Sie hatten Diepoldshofen am 28. April besetzt (es sei eine marokkanische Einheit gewesen). Die Kunde von der Erschießung deutscher Soldaten im nahen Wald hatte zwar inzwischen die Runde im Dorf gemacht, doch die Anwesenheit der Besatzungsmacht und Schneefall, der vom 1. bis 3. Mai anhielt, verhinderte, dass sich der eine oder andere Gemeindebürger im Wald eingehender nach der Hinrichtungsstätte umsah. Auch als der Schnee abgeschmolzen war und man sich nach und nach hinsichtlich der französischen Soldaten wieder freier zu bewegen wagte, konnte man die Gräber der Toten nicht ohne Weiteres ausmachen. So berichtet Herr Joos, er habe sich in den nahen Wald begeben, um sich dort umzusehen. An mehreren Bäumen habe er in Mannshöhe deutlich Geschossspuren feststellen können und auch beobachtet, dass am Fuß dieser Bäume das Moos des Waldbodens zertreten und zerscharrt war, offenbar Spuren der Exekution. Die Stelle aber, wo die Erschossenen begraben waren, habe er bei diesem Besuch nicht finden können, zumal er der französischen Besatzung wegen sich nicht länger und eingehender im Wald habe umsehen wollen. Wie sich später herausstellte, waren die beiden flachen Gruben, in denen die Toten mit einer verhältnismäßig dünnen Erdschicht überdeckt lagen, so mit Fichtenwipfeln und Fichtenreis getarnt worden, dass die Stelle einem Reisigplatz glich und für ein ungeübtes Auge nichts Besonderes im Wald darstellte.
Jagdpächter Koch macht eine Entdeckung
In der zweiten Maihälfte entdeckte, wie die Diepoldshofener Gewährsleute berichten, der inzwischen verstorbene Jagdpächter Matthäus Koch im Wald Kleiderfetzen und beobachtete, dass sich an einer bestimmten Stelle – es war in dem der Grössermühle gehörenden Waldteil Ziegletz – auffallend viel Schmeißfliegen sammelten. Beim näheren Hinsehen soll er gesehen haben, dass Teile einer Hand (andere sprechen von Stiefelspitzen) aus dem Boden ragten. Er hatte unweit der Stelle, wo die Gefangenen exekutiert worden waren, den Platz entdeckt, wo die Hingerichteten begraben lagen. Die dünne Erdschicht über den Toten hatte sich gesenkt und preisgegeben, was sie bisher verborgen hatte. Koch meldete seine Beobachtung bei der Ortsbehörde, von dieser gelangte die Meldung schließlich an die Besatzungsmacht, die die Exhumierung und Neubestattung der Toten anordnete.
Umbettung der Erschossenen
Das geschah am 4. und 5. Juni durch Deutsche, die von den Franzosen in Leutkirch inhaftiert waren und nun mit einem Lkw nach Diepoldshofen gefahren wurden. Pfarrer Lamprecht war Augenzeuge bei der Exhumierung. Er äußerte sich der Zeitschrift „Revue“ gegenüber: „Es war ein furchtbarer Anblick für mich. Die Ausschussstellen bei den Toten waren handtellergroß, einige trugen noch Augenbinden.“ Einer von den deutschen Ausgräbern berichtete fünfzehn Jahr später einer Reporterin der „Schwäbischen Zeitung“13, es sei damals sehr heiß gewesen, ohne Handschuhe hätten sie die Leichen ausgraben und umbetten müssen. Nur sieben der Hingerichteten hatten Erkennungsmarken umhängen. Sie konnten später (1953) durch die deutsche Dienststelle Berlin-Wittenau identifiziert werden. Es sind das (Angaben laut „Revue“-Bericht):
Koal, Ebert, geb. 5.12.14, Kottbus
Erkennungsmarke: 64437 Nr. 100

Heidisch, Gerhard, geb. 20.12.14, Zittau
Erkennungsmarke: 1791 – Wehrm.Gef.Torgau F.Z.
Tuschkewitz, Rudolf, geb. 17.7.22, Bochum
Erkennungsmarke: 1792 – Wehrm.Gef.Torgau F.Z.

Krüger, Heinz, geb. 18.3.21, Behlitz
Erkennungsmarke: 1803 – Wehrm.Gef.Torgau F.Z.
Netzel, Günther, geb. 6.3.24, Stettin
Erkennungsmarke: 22778/43 Kriegsmarine

Fotos: Reischmann
Weber, August, geb. 27.5.25, Idstein/Ts.
Erkennungsmarke: 6663 – St.Kp.Ldschtz.Ers.u.Ausb.Btl.12
Wolange, Heinrich, geb. 26.8.15, Essen
Erkennungsmarke: 408 – 5.Flak.Ers.Abt. 24
Die Grabstätte von 1945
Die Toten wurden am Waldrand nahe der Straße Diepoldshofen-Bauhofen in einem Gemeinschaftsgrab in zwei Reihen beigesetzt. Auf der quadratischen Grabfläche von etwa fünf auf fünf Metern bezeichneten damals kleine, auf einem eisernen Steckspieß angebrachte nummerierte Emailleschildchen die Lage der Toten – Namen kannte man noch nicht. Nach der Umbettung fand eine kirchliche Trauerfeier statt, die von dem Ortsgeistlichen Lamprecht und seinem evangelischen Kollegen aus Leutkirch veranstaltet wurde. Die Einwohner von Diepoldshofen gingen mit den beiden Geistlichen, Kreuz und schwarze Kirchenfahne voraus, zum neu angelegten Grab. Pfarrer Lamprecht segnete die Grabstätte ein, beide Geistliche sprachen Gebete, Lieder des Kirchenchors umrahmten die Feier. Aus einem trübgrauen Himmel fiel starker Regen.
Anm. d. DBSZ-Red.: Die heutige Grabstätte stammt von 1959. Darauf geht Artur Angst in unserer Folge 4 ein.
Die beiden ursprünglichen Grabstätten im Wald – sie lagen wie gesagt ganz nahe der Hinrichtungsstätte – waren eine Zeitlang durch zwei Holzkreuze gekennzeichnet. Am jetzigen Gemeinschaftsgrab wurde ein etwa zwei Meter hohes mit einem Kupferdächlein versehenes Holzkreuz errichtet, das die Inschrift trug: „Ruhet im Frieden“. Als Grabumfassung wurden Tännlein gepflanzt, schließlich noch eine Holzumzäunung hinzugefügt.
Fortsetzung folgt
Fußnoten
10) Seite 4. Hier auch sind die angeführten Einzelheiten der Vorbereitung und Durchführung der Exekution zu finden. Anzumerken ist, dass die Toten nicht in einer Grube beigesetzt wurden, wie es in der Einstellungsverfügung Ravensburg heißt, sondern dass man sie in zwei Gruben bestattete.
10a) Einstellungsverfügung Ravensburg S. 4.
11) Zu dem, was Major Burkhardt dem Pfarrer. Lamprecht berichtete bzw. was dieser als Mitteilung des Majors anführt, siehe die kritische Bemerkung im Vorwort.
12) So schildert Siebler die letzten drei Tage bei seiner Einheit; siehe Einstellungsverfügung Ravensburg S. 5; die Staatsanwaltschaft Ravensburg betrachtete die Angaben aufgrund mehrerer Zeugenurteile als glaubhaft.
13) „Schwäbische Zeitung“, Beilage „Schwabenland“, vom 4.5.1960.
Folge 1 der Serie erschien in der Bildschirmzeitung am 22. April unter dem Titel „Zu den Erschießungen am 26. April 1945“
Folge 2 erschien am 23. April unter dem Titel „Von Waldkirch (Baden) zur Hinrichtung in Diepoldshofen“