Zukunftsweisend
Viele Vereine klagen: Sie verfügen über immer weniger Mitglieder. Nicht so bei der Bürgerinitiative dezentrale Wasserversorgung Oberschwaben e.V. (BdW). „Der Schwund findet woanders statt – jedenfalls nicht bei uns.“ So der stellvertretende BdW-Vorsitzende Dr. Friedrich Rockhoff am 16. April im Kisslegger „Ochsen“ bei der Mitgliedreversammlung. Das hat Gründe. Denn die 423 BdW-Mitglieder bekommen etwas Handfestes von ihrer Vereinigung. Das wirkt am BdW-Vorstandsort Kisslegg so stark, dass selbst Bürgermeister Dieter Krattenmacher auf die Einflüsse der BdW in der Mehr-Seen-Gemeinde hinweist. Und darüber hinaus.
Eigentlich war es um etwas ganz anderes gegangen: Die Bildschirmzeitung hatte Bürgermeister Krattenmacher im Herbst 2023 gefragt, wie es gekommen sei, dass Kisslegg etwas vorweise, was andere erst noch in Jahren erreichen wollen: 100 Prozent. 100 Prozent der Summe aller elektrischen Kilowattstunden, die in der Zwei-Schlösser-Gemeinde verbraucht werden, stammen aus erneuerbaren Energiequellen auf Markung Kisslegg selbst: Sonne, Bioenergie, Wasserkraft … 100 Prozent! Die Bundesregierung will für ganz Deutschland erst bis 2030 insgesamt 80 Prozent erreicht haben. Da liegt Kisslegg also fünf Jahre voraus.
Dezentral ticken
Wie kommt das? Dazu Bürgermeister Krattenmacher im Herbst 2024: „Es gibt wohl kaum eine andere Gemeinde, die so dezentral tickt wie Kisslegg.“ Also wird in der Mehr-Seen-Gemeinde vieles direkt in den kleinen Ortsteilen und Einzelgehöften selbst geregelt. „Wir haben eine sehr dezentrale Eigenversorgung und dezentrale Abwasserreinigung“, erläutert der Rathauschef.
Damals, Ende der 1980er-Jahre / Anfang, Mitte der 1990er Jahren wollten das Regierungspräsidium Tübingen und das Landratsamt Ravensburg Kisslegg mit einem Acht-Millionen-Mark Zuschuss dazu bezirzen, viel, viel mehr Millionen für eine zentrale Trinkwasserversorgung und ein ebenfalls sündhaft teures zentrales Abwassersystem auszugeben. Zwangsanschluss für unzählige Einzelgehöfte? Da wollten diese Bauernfamilien nicht mitmachen. Und ihre Nachbarschaft in Einzel-Siedlungs-Lagen auch nicht. Der damals in Kisslegg-Oberrot lebende Mathematikstudent Michael Verderber rechnete nach. Und kam mit dem Lehrer Josef Gomm zum Ergebnis: Das wird ein finanzielles Fiasko für die Gemeinde. Das müssen die Leute selbst in die Hand nehmen. Kisslegg tat es – gegen heftigsten Widerstand der Behörden.
Sauber
Ergebnis: Als der damalige Landesumweltminister Harald B. Schäfer aus Stuttgart nach Kisslegg reiste, um in Schurtannen die recht neue Pflanzenkläranlage Schurtannen nahe Familie Rockhoff zu besuchen, musste Schäfer einräumen: Die Pflanzenkläranlage reinigt mindestens so gut wie ein viel, viel teureres Technik-Getümmel zur Abwasserklärung in Stuttgart. So hatte es die Universität Stuttgart ermittelt. Und Schäfer bekundete dies bei seinem Besuch in Kisslegg am 23. August 1995.
Seitdem hat die Bürgerinitiative dezentrale Wasserversorgung Oberschwaben BDW einiges durchgesetzt. Zum Wohl ihrer Mitglieder. Und zum Wohl der Gemeinde Kisslegg. Denn diese sparte sich durch die dezentralen Eigenbrunnen und dezentralen (Pflanzen-)Kläranlagen wohl mindestens fünf Millionen D-Mark an öffentlichen Ausgaben. Sinnvolle Haushaltspolitik dank bürgerschaftlichem Sachverstand.
Aufgrund solch starker Erfahrungen fiel es vielen in Kisslegg dann auch leichter als anderen zu entscheiden, ob sie sich Solarzellen aufs eigene Dach schrauben lassen. Bürgerschaftlicher Eigen-Sinn ganz sonnig. Dass sich von dieser Eigenverantwortung auch einige Biogas-Bauernhöfe auf Markung Kisslegg ermutigen ließen, verstärkt das Ganze noch.
Ein Dorn im Auge
Dezentrale Wasserversorgung. Sie scheint den Anbetern teurer, zentraler Groß-Lösungen ein Dorn im Auge. Andererseits legt diese dezentrale Eigenversorgung Erkennbares nahe. Denn wenn während Trockenzeiten Wasser allgemein als immer knapperes Gut gelten dürfte, kann es helfen, sich aus vielen Quellen in Fluss halten zu lassen.
Mehr noch: Der deutsche Staat verfügt(e) 2023 über so viel Geld wie noch nie. Das dürfte sich absehbar ändern. Siehe aktuelle Wirtschaftslage. Aus ihr sprudeln wohl weniger Steuern. Umso einfacher ist dann eine sinnvolle Versorgung der Bevölkerung möglich, wenn Bürgerinnen und Bürger selbst anstehende Aufgaben lösen. Wie zum Beispiel die Gewinnung von lebensnotwendigem Trinkwasser.
So betrachtet, muss die Bürgerinitiative dezentrale Wasserversogung Oberschwaben e.V (BdW) als starke Botschafterin eines zukunftsfähigen Gemeinwesens gelten. Das heißt: Sowohl der Bürgermeister und der örtliche Landtagsabgeordnete Raimund Haser als auch allerhand Leute, die der Bevölkerung sagen (möchten), wo’s langgeht, wären bestens beraten, in Kisslegg anzuschauen, wie’s bezahlbar weitergeht. BdW – bitte beachten. In Stuttgart, Berlin, Brüssel.
Julian Aicher
Transparenzhinweis: Das Wohnhaus von Bildschirmzeitungs-Reporter Julian Aicher in Leutkirch-Rotismühle bezieht Trinkwasser aus der eigenen Quelle des Anwesens – und klärt Flüssig-Abwasser in einer eigenen Pflanzenkläranlage. Aicher berichtete schon in den 1990er-Jahren über die Bemühungen der BdW.