Die letzte Chance
Warum sollte es bei uns anders laufen als bei anderen Paaren in der gleichen Situation? Im Laufe der Jahre hat sich auch in unserem Verhältnis zueinander vieles eingespielt, ist normal, ist zur Gewohnheit geworden. Das Haus ist abbezahlt, die Kinder sind aus dem Gröbsten raus und wir, wir haben uns in den letzten Jahren zumindest ein Stückchen weit auseinandergelebt.
Weil meine Frau und ich analytisch denkende, vernunftbegabte, kopfgesteuerte Menschen sind, blieb uns beiden dieser Zustand nicht verborgen. Wir haben im Laufe der Jahre gelernt, offen und ehrlich miteinander umzugehen, also müssen auch diese unschönen Gedanken ausgesprochen, muss dieses Nur-noch-nebeneinanderher-leben thematisiert werden. Nein, ernsthaft böse aufeinander waren wir nicht, lauthals schimpfen und ungerecht miteinander streiten ist auch nicht unser Ding.
In aller Ruhe besprachen wir auf einem zweisamen Waldspaziergang im letzten Spätsommer unsere prekäre Situation, unser unmerklich über die Zeit gewachsenes Nicht-Verhältnis. Das Wort Trennung fiel, eine der Vernunft geschuldete und unser beider Zukunft rettende Scheidung stand im Raum.
Auf unserem kleinen Marsch kamen wir an einer neu angelegten Christbaumschonung vorbei und entdeckten am Rand des Geländes einen Mickerling, eine etwas schiefgewachsene, zurückgebliebene Nordmanntanne. Halb im Ernst, halb im Spaß meinten wir übereinstimmend: „Wenn des kloine Bäumle überleabt, wenn ’s durchhaltet, it verbissa wird, it vertrocknet, dann, jo dann bleibet mir boide beianand, denn probierets mir nomol mitnand. Wenn it, jo dann ganget mir endgültig ausanand!!“
Nach dieser Vereinbarung gingen wir beide im übertragenen und im eigentlichen Sinn des Wortes getrennte Wege.
Drei Wochen später wollte ich nach „unserem“ Mickerling schauen und staunte nicht schlecht, dass jemand die Wurzeln abgedeckt und die Baumspitze gegen Verbiss geschützt hatte. Ich selber trug (zufällig?) ein Säckchen mit Dünger bei mir, den ich sorgfältig rund um das Bäumchen streute.
Der Herbst in diesem Jahr war ausgesprochen trocken, Regen war Mangelware, die Natur darbte. Auf meinen Spaziergängen durch den Wald führte ich deshalb immer eine mit Wasser gefüllte Flasche mit und entleerte sie an dem Baum, der zwischenzeitlich gar nicht mehr so mickrig aussah.
Mitte Dezember kam dann überraschend der erste Schnee. Dicke, nasse, schwere Flocken fielen vom Himmel. Mein erster Gedanke galt dem Baum. Meine Furcht: Schneebruch!
Am Sonntagvormittag machte ich mich, bewaffnet mit gefütterten Arbeitshandschuhen, auf den Weg. Ich wollte das Christbäumle vom Schnee befreien. Ich staunte nicht schlecht, als ich an der Schonung um die Ecke bog und dort auf meine Frau traf, die, dick vermummt, den ehemalig mickrigen Baum sanft schüttelte, um ihn so schnee- und druckfrei zu machen.
Wir standen uns wortlos gegenüber, schauten uns in die Augen und erkannten die Absicht des jeweils anderen. Mit kleinen, zögerlichen Schritten gingen wir aufeinander zu und nahmen uns in den Arm. Am nächsten Morgen machten wir uns Hand in Hand auf zum Besitzer der Baumschule, vereinbarten einen Preis für „unseren“ Baum und holten ihn gemeinsam in unsere Wohnstube.
Noch nie in den Jahren vorher haben wir lauter und inbrünstiger am Heiligen Abend das Loblied geschmettert: Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum …!
Bernhard Bitterwolf
Die Erzählung wurde dem Buch „Frai de heit, s isch Weihnachdszeit“ entnommen, das Bernhard Bitterwolf zusammen mit Edi Graf im Silberburg-Verlag herausgebracht hat.
Bernhard Bitterwolf, Edi Graf: Frai de heit, s isch Weihnachdszeit
Schwäbische Geschichten, Gedichte und Lieder
144 Seiten, ca. 50 Abb. (Grafiken) und Noten,
14,0 x 21,0 cm, Hardcover mit Fadenheftung
Silberburg-Verlag, Tübingen
€ 19,99
ISBN: 978-3-8425-2389-0
Der Schriftsteller und Moderator Edi Graf und der oberschwäbische Barde Bernhard „Barny“ Bitterwolf haben für das Buch Frai de heit, s isch Weihnachdszeit tief in ihre Weihnachtskiste gegriffen und daraus die schönsten schwäbischen Geschichten, Gedichte und Lieder hervorgezaubert. Schon das Cover des Buches zaubert dem Betrachter ein Lächeln ins Gesicht: Drei junge Sternsinger schmettern mit weit geöffneten Mündern inbrünstig ihre Lieder. Gezeichnet ist diese Darstellung des lebendigen Brauchtums im Ländle vom bekannten Illustrator Uli Gleis. Im Buch selber lockern kleine, adventlich inspirierte Bildchen den Textfluss auf. Dadurch wird allein schon das Blättern im Buch zur Freude. Der Graphiker Björn Locke hat hier tolle Arbeit geleistet.