Die alte Hebamme
Die Zeit bleibt nicht stehen. Auch für sie nicht. Jetzt ist sie in die Jahre gekommen und spürte das Alter in den Knochen. In ihrer aktiven Zeit hatte die alte Hebamme Theresa einer unüberblickbaren Zahl von Babys auf die Welt geholfen. Ihr Beruf war echte Berufung für sie. Theresa ging auf in ihrem Bemühen um eine möglichst angenehm-professionelle Geburtshilfe. Zahlreiche Mütter im Umkreis sind ihr zu Dank verpflichtet. Nicht zu vergessen die Väter, die häufig eine besondere Zuwendung brauchten.
Immer hatte Theresa ein offenes Ohr für alle an der Geburt Beteiligten. Sicher die Hälfte der Bewohnerinnen und Bewohner der Kleinstadt im Schussental erblickten mit Theresas Hilfe das Licht der Welt. Vor lauter Sorge um die ihr vertrauenden und damit ihr anvertrauten Mütter hat sie es versäumt, für sich selbst Vorsorge zu treffen. Als Selbständige schaffte sie es gerade so, finanziell einigermaßen über die Runden zu kommen. Für eine Lebensversicherung oder eine private Altersrente reichte ihr Einkommen leider nicht aus. Zumal Theresa nicht selten auf Teile des ihr zustehenden Salärs verzichtete, wenn sie mitbekam, wie finanziell klamm die Familie war, die sie zu betreuen hatte.
Ihre Gutmütigkeit rächte sich nun gegen Ende ihres Lebens. Nach einer Gott sei Dank über-wundenen Krebserkrankung konnte sie nicht mehr als Hebamme praktizieren; auch zeigte sie sich nach den zahlreichen Behandlungen mit Chemotherapie und Operation zu schwach, um ihren kleinen, aber jahrelang ertragreichen Gemüsegarten umzutreiben. Das zur Verfügung stehende Geld reichte vorne und hinten nicht. Selbst das von ihr zeitlebens sehr geschätzte Schwimmen im warmen Wasser des örtlichen Thermalbades war nicht mehr drin.
Weil ihr Leben nur aus der erfüllenden Arbeit als Geburtshelferin bestand, gab es auch keinen unterstützenden Partner an ihrer Seite. Ihr war klar, irgendwie musste sie mit ihren knapp 80 Lebensjahren alleine und auf sich gestellt über die Runden kommen.
In ihrem fortgeschrittenen Alter erkannten sie vor allem die Jüngeren in der Nachbarschaft nicht mehr und manchmal wurde selbst ihr Gruß nicht mehr erwidert. Das schmerzte bis tief hinein in die Seele. Die Sache mit dem Grüßen schien ohnehin aus der Mode gekommen zu sein.
Als tragisch empfand sie, dass sie sich in diesem Jahr weder einen Christbaum und schon gar kein festliches Weihnachtsessen leisten konnte. Trübsinnige und traurige Tage standen Theresa am Ende der Adventszeit bevor.
Doch es kam anders als erwartet.
Am frühen Nachmittag des Heiligen Abends läutete es an der Haustür der alten Hebamme. Draußen stand eine junge Frau:
„Sie erinnern sich sicher nicht mehr an mich. Ich bin Brigitte. Vor über 30 Jahren haben Sie mich zur Welt gebracht. Es war wohl keine einfache Geburt. Meine Eltern erzählen bis heute von Ihrem selbstlosen Einsatz. Frohe Weihnachten!“, sprachs und drückte der verdutzten Theresa einen großen Korb mit ausgesuchten kulinarischen Spezialitäten in die Hand.
Keine halbe Stunde später wiederholte sich dieser Vorgang. Ein junger Mann kam auf einen Sprung vorbei, erinnerte an die Tage rund um seine Geburt, wünschte ein fröhliches Fest und überbrachte ein stattliches Weingebinde.
Menschen unterschiedlichen Alters gaben sich an diesem 24. Dezember die Türklinke am Haus der alten Hebamme in die Hand. Offenbar hatte sich die Not der betagten und verdienten Mitbürgerin herumgesprochen. Dankbar und mit strahlendem Gesicht nahm Theresa die überbrachten Geschenke an, aber noch dankbarer war sie für die Zuwendung, die ihr am Tag der Geburt des Herrn entgegengebracht wurde. Geburten, ja das war ihr Metier. Die Erkenntnis wuchs mit jedem weiteren Besuch: Menschen zu helfen, hilft einem selbst auch. Manchmal braucht es einfach etwas Zeit.
Bernhard (“Barny”) Bitterwolf
Diese Kurzgeschichte wurde dem Buch „Frai de heit, s isch Weihnachdszeit“ entnommen, das Bernhard Bitterwolf zusammen mit Edi Graf im Silberburg-Verlag herausgebracht hat.
Bernhard Bitterwolf, Edi Graf: Frai de heit, s isch Weihnachdszeit
Schwäbische Geschichten, Gedichte und Lieder
144 Seiten, ca. 50 Abb. (Grafiken) und Noten,
14,0 x 21,0 cm, Hardcover mit Fadenheftung
Silberburg-Verlag, Tübingen
€ 19,99
ISBN: 978-3-8425-2389-0
Der Schriftsteller und Moderator Edi Graf und der oberschwäbische Barde Bernhard „Barny“ Bitterwolf haben für das Buch Frai de heit, s isch Weihnachdszeit tief in ihre Weihnachtskiste gegriffen und daraus die schönsten schwäbischen Geschichten, Gedichte und Lieder hervorgezaubert. Schon das Cover des Buches zaubert dem Betrachter ein Lächeln ins Gesicht: Drei junge Sternsinger schmettern mit weit geöffneten Mündern inbrünstig ihre Lieder. Gezeichnet ist diese Darstellung des lebendigen Brauchtums im Ländle vom bekannten Illustrator Uli Gleis. Im Buch selber lockern kleine, adventlich inspirierte Bildchen den Textfluss auf. Dadurch wird allein schon das Blättern im Buch zur Freude. Der Graphiker Björn Locke hat hier tolle Arbeit geleistet.