„Angekommen. Die Integration der Vertriebenen in Deutschland“ ist nur noch heute zu sehen
Leutkirch – Donnerstagabend, 8. August, im Museum im Bock am Leutkircher Gänsbühl. Draußen leuchtet die Abendsonne – und der Kornhausplatz erlebt ein Beachvolleyball-Spiel. Drinnen im Museum nahe des Bockturms haben sich gut 30 Leute versammelt. Meist ältere. Sie sind gekommen, um dem CDU-Landtagsabgeordneten Raimund Haser (aus Immenried) zuzuhören. Er führt durch die dortige Wanderausstellung “Angekommen. Die Integration der Vertriebenen”. Die sehenswerte Ausstellung endet heute. Also, heute von 14.00 Uhr bis 17.00 Uhr ist die letzte Gelegenheit!
So zogen viele nach Westen: Mit ein paar Habseligkeiten auf dem Leiter-Wagen.
Ein sehr persönliches Anliegen. Mit hochpolitischer Wirkung. Oder: Warum ist Raimund Haser kein Bürger „mit Migrationshintrgrund”, obwohl Vater Haser auf dem Gebiet des späteren Jugoslawien zur Welt gekommen war? Weil hierzulande seit 1953 das Bundesvertriebenengesetz gilt. Seither sind Millionen von Menschen mit volksdeutscher Herkunft, die nach 1945 aus Osteuropa nach Deutschland kamen, „Deutsche im Sinne des Gesetzes”.
Haser (Bild) dient inzwischen als Zweiter Vorsitzender des Bundes der Vertriebenen, Landesverband Baden-Württemberg. Seine Herkunftsfamilie floh nach 1945 aus dem heutigen Serbien als Donauschwaben nach Deutschland. Und so kann Haser sowohl als Familienangehöriger als auch als interessierter Verbandspolitiker über Erkenntnisse berichten, „die man vielleicht so nicht weiß”.
Raimund Haser erzählt von den 12 Millionen Menschen, die ab 1945 aus Osteuropa „teilweise aus völlig anderen Kulturkreisen” nach Deutschland flohen. Weitere rund drei Millionen überlebten die damaligen Vertreibungen aus Osteuropa nicht. Sie alle sprachen Deutsch. Ihre Herkunftsfamilien waren vor Jahrhunderten von Deutschland aus nach Osteuropa umgesiedelt.
Die ab 1945 nach Deutschland Gekommenen schafften vieles zwischen Bremen und Balderschwang. So wuchs die Bevölkerung Leutkirchs (Kernstadt) von 4510 Personen im Jahr 1933 auf 6172 im Jahr 1952. Sie kamen in ein Land, in dem damals „jeden Tag von Auschwitz in der Zeitung stand”. Mit einer Einwohnerschaft, die wegen dieser Verbrechen während der Nazizeit 1933 bis 1945 im Ausland als „geächtet” galt. Dabei hatten die Geflohenen aus Osteuropa selbst Grausamkeiten erlebt, erzählt Raimund Haser. Alles andere als leichte Voraussetzungen für einen Neuanfang nach 1945 in einem zerstörten Land.
Vob „Kulturschock” bis zum „Riesen-Konjunkturprogramm”
Einheimische erkannten Vertriebene aus Osteuropa oft an „kopftuchtragenden Frauen”. Vielleicht weiblichen Geflohenen aus Afrika heute in Deutschland gar nicht so unähnlich, fragt Raimund Haser – und erläutert: „Der Kulturschock ist wohl der Gleiche gewesen.” Andererseits lösten die neu Hergezogenen aus Osteuropa im Nachkriegsdeutschland der 1950er- und 1960er-Jahre ein „Riesen-Konjunkturprogramm” aus. Denn viele von ihnen waren „junge Leute, die schaffen wollten und schaffen konnten“. Die Autoindustrie von Sindelfingen bis Stuttgart wäre ohne Mitarbeit dieser Fleißigen niemals so rasch gewachsen im Schwabenland, berichtet Raimund Haser. Ja selbst das Bundesland Baden-Württemberg hätte ohne die Vertriebenen nicht entstehen können. Denn sie stimmten 1952 zusammen mit den Altbürgern für den Zusammenschluss der zuvor eigenständigen Bundesländer Nordwürttemberg-Nordbaden, Südwürttemberg-Hohenzollern und Südbaden. Dank der Heimatvertriebenen entstanden in Süddeutschland neue Städte wie etwa Neugablonz bei Kaufbeuren. Und manches Unternehmen, das heute hier wirkt, entstand ursprünglich in Osteuropa. Gruschwitz zum Beispiel. Oder Kuhnert-Feinstrumpfhosen.
Versöhnliche Charta
Von denen, die zur Flucht aus ihrer Heimat aufbrechen, haben „die allermeisten aus Not” einen neuen Platz zum Leben gesucht, erläutert Raimund Haser. Und er erinnert an manche Abwehrhaltung Einheimischer in Deutschland gegen die Landsleute aus dem Osten. Beeindruckende Versöhnungsgeste: Am 5. August 1952 gelobten die Vertriebenen in ihrer Charta „Verzicht auf Rache” gegenüber den osteuropäischen Völkern und verkündeten, sich für ein geeintes Europa stark machen zu wollen. Rund 100.000 Vertriebene bekannten sich einen Tag später in Stuttgart feierlich zu dieser Charta. In dieser politischen Linie zeigt sich auch Raimund Haser als Politiker heute. Am 8. August sagt er dazu: “Es gibt nur Europa – einen Kontinent.” Auf ihm lebten sowohl „blonde Italiener” als auch „Deutsche mit dunkler Haarfarbe”: Kleinstaaterei habe in einer Welt großer Mächte wie China und den USA heute keine Zukunft mehr. Haser erinnerte dabei an das Kopftuch, das viele vertriebene Frauen auch noch lange in Westdeutschland trugen.
Text und Fotos: Julian Aicher
Nicht alle in Süddeutschland zeigten sich begeistert von den da,als neu aus Osteuropa Zugezogenen – wie dieser Fasnetsumzug in Baden Ende der 1940er-Jahre zeigt.