Vortrag über Wurzach im Jahr 1945
Bad Wurzach – Die katholische Erwachsenenbildung der Seelsorgeeinheit Bad Wurzach lud zum Vortrag „Wurzach – im Jahr 1945“ von Gisela Rothenhäusler ins Pius-Scheel-Haus ein – und sehr viele kamen, darunter auch einige „Zeitzeugen“, die diese letzten Kriegstage in Bad Wurzach als Kinder noch selbst erlebt hatten.
Bei der Begrüßung zeigten sich Stadtpfarrer Stefan Maier und die Historikerin und pensionierte Lehrerin Gisela Rothenhäusler, die sich seit Jahrzehnten intensiv mit der Heimatgeschichte und insbesondere mit der NS-Zeit von Wurzach beschäftigt, vom Besuch überwältigt: „Ich wäre mit 20 Besuchern schon hoch zufrieden gewesen”, sagte die Referentin. Am Ende waren es rund 60 und es mussten rasch noch weitere Stühle herbeigeschafft werden.
Der Vortrag war eigentlich schon für 2020 zu „75 Jahre Ende des Zweiten Weltkrieges“ vorgesehen, fiel dann aber wie die meisten Veranstaltungen damals Corona zum Opfer. Eigentlich sei der Termin jetzt ohne besonderen Anlass, aber: „Es herrscht – nicht weit von uns weg – wieder Krieg.“
“Mein Gott, so vielen Namen”
Rothenhäusler begann ihren Vortrag mit einem Foto des unscheinbaren Gedenksteines für die Opfer der beiden Weltkriege bei den Kriegsgräbern auf dem Bad Wurzacher Friedhof. „Mein Gott, so viele Namen”, so kommentierte sie Bilder von der Gedenkstätte bei der Aussegnungshalle, wo am vergangenen Sonntag noch der Volkstrauertag zum Gedenken für alle Opfer von Krieg und Gewalt begangen worden war. Denn Wurzach hatte vor dem Krieg keine 2000 Einwohner. 1933, als Hitler die Macht ergriff, zählte man bei der letzten freien Wahl in Wurzach gerade einmal 1017 Wahlberechtigte, von denen die Mehrheit damals noch der Zentrumspartei ihre Stimme gab.
Nächste Station in Bildern war der Heldengedenktag 1942, als die Schloßstraße längst nach Adolf Hitler und die Herrenstraße nach Wilhelm Murr, dem württembergischen Gauleiter, benannt worden war. Für die Gedenkfeier am Denkmal der Opfer des Ersten Weltkrieges, das bis in die Sechziger Jahre seinen Platz direkt neben der Kirche hatte, hatte die NSDAP sämtliche ihrer Gruppierungen aufgeboten.
Anhand von einem Foto aus Arnach mit Parteiprominenz um Arnachs Bürgermeister Schlachter, zeigte sie auf, dass in Wurzach das Archiv nach dem Krieg gründlich gesäubert worden war.
1940/41 war das Ried Übungsgelände des Fliegerhorstes Mermmingen, 1944 wurde, weil Friedrichshafen bombardiert wurde, die Wurzacher Turnhalle für Maybach beschlagnahmt. Und weil die Kriegsmaschinerie beständig Material und Munition brauchte, musste auch Wurzach drei von vier Kirchenglocken abliefern, die jedoch zum Glück nicht eingeschmolzen wurden und 1947 wieder zurückgeholt werden konnten.
Konfessionelle Schulen wie das Salvatorkolleg im Schloss wurden ab 1937 zunächst in ihrem Lehrauftrag behindert (in diesem Jahr durften keine weiteren Schüler aufgenommen werden). 1940 erfolgte dann die Schließung. Nicht ganz so groß war der Druck bei Maria Rosengarten, die Haushaltsschule durfte von den Schwestern weiter betrieben werden.
Das Schloss wurde zunächst zum Kriegsgefangenenlager für französische Soldaten und Offiziere korsischer Herkunft, weil Italien als Verbündeter Hitler-Deutschlands darauf hoffte, dass diese die Seiten wechseln würden. Auf dieses Gefangenenlager wurde die Genfer Konvention angewendet, was einer Besserbehandlung gleichkam, ein Glück, das viele russische und deutsche Gefangene an der Ostfront nicht zuteil wurde.
600 Personen im Schloss
Dass danach von Herbst 1942 bis zum Kriegsende im Mai 1945 600 der 2000 Zivilinternierten – Familien, also Männer, Frauen und Kinder – von der Insel Jersey im Schloss gefangengehalten wurden, war für die Wurzacher Bevölkerung ein Schock, oder wie es Gisela Rothenhäusler ausdrückte, „ein anderes Kaliber“. Zu ihnen stießen dann 1944 72 jüdische Häftlinge mit doppelter Staatsbürgerschaft aus dem KZ Bergen-Belsen, die gegen deutsche Kriegsgefangene ausgetauscht werden sollten. Weil im „Austauschzug“ in Kreuzlingen weniger Gefangene zum Austausch waren als geplant, mussten die „überzähligen“ Häftlinge den Zug in Ravensburg verlassen und wurden dann durch die Städte und Ortschaften getrieben und landeten in den Lagern in Wurzach und Biberach. Damals erfuhren die Wurzacher wohl erstmals, was für Zustände in den KZ herrschten.
Erinnerung an Clemens Högg
Gisela Rothenhäusler erinnerte in dem Vortrag auch an den wohl einzigen echten Wurzacher Widerstandskämpfer Clemens Högg. Der gebürtige Wurzacher ging in die Politik, wurde für die SPD bayerischer Landtagsabgeordneter. 1922 war er einer der Initiatoren, die in Neu-Ulm eine Ortsgliederung der noch jungen Arbeiterwohlfahrt gründeten. Er kam 1933 nach seiner Verhaftung ins KZ Dachau, wurde 1934 entlassen. 1939 wurde er in seiner alten Heimat im Allgäu erneut verhaftet, kam ins KZ Sachsenhausen, wo er nach jahrelangen Repressalien durch den Lagerleiter dann im Frühjahr 1945 verstarb. Gisela Rothenhäusler hofft, dass er in Bad Wurzach irgendwann, wie bereits in Augsburg, einen Stolperstein erhält.
“Im Kreuz ist Heil”
Ein weiteres Zeichen des passiven Widerstandes ist aktuell dem Verfall preisgegeben: Es ist ein Feldkreuz, das im Jahre 1942 (!) mit der Inschrift „Im Kreuz allein ist Heil“ vermutlich von Salvatorianer-Patres aufgestellt wurde (oberhalb des Salvatorhofes bei den Birken am Weg Richtung Wengenreute). Auch in diesem Fall hofft Rothenhäusler, dass es erhalten werden kann.
Zurück zum Schloss: Nachdem fast alle wehrfähigen Männer an die Front mussten, stand das Barackenlager hinter dem Schloss, in dem die Wachmannschaften untergebracht waren, leer, weil nur noch zwölf Schutzpolizisten für die Bewachung der Internierten übrig geblieben waren. Deswegen wurde das Lager bald als Wehrertüchtigungslager genutzt, wo Jugendliche bis kurz vor Kriegsende in dreiwöchigen Kursen auf den Kriegseinsatz vorbereitet wurden.
Das Radio Im Schloss
Irgendwie war es den Internierten gelungen, einen Radioempfänger ins Schloss zu schmuggeln, mit dem sie bei BBC hörten und damit über den Kriegsverlauf besser informiert wurden als die Wurzacher Bevölkerung. So feierten die Internierten die ersten Bomberstaffeln, die über Wurzach gen München flogen, an den Fenstern stehend, was dem Lagerkommandanten und der Stadtverwaltung natürlich überhaupt nicht gefiel. Im Schlosshof bildeten die Internierten die Buchstaben PoW (Prisoners of War) nach, um vor einer Bombardierung durch Tiefflieger geschützt zu sein.
Zwei Todesmärsche durch Wurzach
Gisela Rothenhäusler erinnerte auch an die sogenannten Todesmärschen von KZ-Häftlingen, etwa auf der Schwäbischen Alb, von denen zwei auch durch Wurzach führten. In den letzten Kriegstagen kamen etliche Fremdarbeiter, aber auch desertierende deutsche Soldaten (wie die 15 Soldaten, die damals bei Diepoldshofen von einem fanatischen Nazioffizier erschossen wurden), ums Leben. Die Verantwortlichen dafür beriefen sich später im Falle eines Prozesses auf Befehlsnotstand und blieben oft unbehelligt.
Der mutige Muna-Kommandant
Mehr Rückgrat bewies der Kommandant der Muna in Urlau, Major Günther Zöller. Obwohl die Sprengung der gesamten Anlage befohlen worden war, konnte er durch eine Verzögerungstaktik diese beim Anrücken der französischen Truppen verhindern. Wegen der dort gelagerten Giftgasmunition wäre es zu einer riesigen Umweltkatastrophe im Allgäu gekommen.
Am 28. April 1945 wurden die im Wurzacher Schloss Internierten von französischen Kampftruppen befreit. Das Vorrücken auf Wurzach von Waldsee über den Haisterkircher Höhenzug ging nicht reibungslos vonstatten: einige Kämpfer der SS hatten sich in Ziegelbach einquartiert und eröffneten das Feuer auf die französischen Panzer, die sich noch einmal kurz zurückzogen, dann aber das Feuer auf Ziegelbach und die Haid eröffneten, mit dem Ergebnis, dass dort einige Häuser zerstört wurden.
Wie in vielen anderen Orten wurde auch in Wurzach bald die weiße Fahne gehisst.
Eine Panzerbesatzung dürfte etwas irritiert gewesen sein, als sie das Schloss passierte: Die Jersyaner jubelten ihnen besonders zu, weil der Panzer den Namen St. Malo trug. Es war für die Internierten fast ein Stück Heimat, denn von St. Malo aus startet die Fähre nach Jersey.
Nach dem 8. Mai
Wie ging es nach dem Kriegsende am 8. Mai in Wurzach weiter? Auf die Kampftruppen folgten die Besatzungstruppen, die bald zum Straßenbild gehörten, aber auch für weitere Probleme sorgten: Denn zu den rund 1550 Wurzachern mussten auch vielen Evakuierten mit Lebensmitteln versorgt werden. Auch Verwaltungsstrukturen mussten geschaffen werden, so wurde zum Beispiel der jersyanische Senior des Internierungslagers von den Besatzern zum Bürgermeister ernannt. Im Juni 1945 konnten die Internierten dann das Schloss räumen. Dafür kamen Flüchtlinge aus dem Baltikum, die meisten aus Lettland nach Wurzach.
Weil der Winter 45/46 einer der kältesten des 20. Jahrhunderts war, wurde, um zu heizen, im Ried viel Torf gestochen. Vieles davon wurde als Reparationszahlung nach Frankreich geschickt, bis man feststellte, dass dies nicht zielführend war. Bis in die Fünfzigerjahre hinein wurden dafür von Holzfällertrupps die Wälder rings um Wurzach abgeholzt und per Zug nach Frankreich gebracht. So soll etwa der Eulenberg danach komplett kahl gewesen sein, erzählten einige der Zeitzeugen während des Vortrags.
Die Besatzungs-Verwaltung ließ alsbald Listen erstellen, in denen rund 150 NSDAP-Parteigenossen in Wurzach namentlich erfasst wurden. Entnazifizierungs-Akten wurden erstellt, aber häufig erhielten die betroffenen Personen von Bekannten oder Prominenten einen „Persilschein“. So wie der Notar Alfred Nagel, dem der damalige Stadtpfarrer Kohler einen einwandfreien Leumund bescheinigte.
Lang anhaltender Applaus bekam Gisela Rothenhäusler für ihren rund zweistündigen, spannenden Vortrag über dieses auch für Wurzach dunkle Kapitel in der Geschichte. Das aber von den nächsten Generationen mit der Aussöhnung und den Städtepartnerschaften mit praktisch allen Kriegsgegnern zu einem wunderbar friedlichen Miteinander verwandelt wurde.