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Vortrag im Stadtarchiv Bad Waldsee

Matthias Erzberger – Opfer des Rechtsextremismus



Foto: Peter Lutz
Der 1921 ermordete Matthias Erzberger gilt als einer der Wegberieter der deutschen Demokratie. Aus der Beamer-Präsentation von Referent Dr. Christopher Dowe.

Bad Waldsee – Das Stadtarchiv Bad Waldsee unter der Leitung von Michael Tassilo Wild lud im Rahmen seiner diesjährigen Vortragsreihe den Historiker Dr. Christopher Dowe vom Haus der Geschichte Baden-Württembergs in Stuttgart zu einem Vortrag über das Wirken Matthias Erzbergers in Süddeutschland und im gesamten damaligen Deutschen Reich ein. Wild freute sich bei seiner Begrüßung über eine den gesamten Vortragsraum füllende Besucherschar, stellte Dowe kurz vor und bat ihn ums Wort.

Begrüßung von Referent und Auditorium durch Bad Waldsees Stadtarchivar Michael Tassilo Wild.

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Der Historiker Dr. Christopher Dowe (hier bei seinem Vortrag in Bad Waldsee) arbeitet im Haus der Geschichte Baden-Württemberg in Stuttgart.

Bereits vor drei Jahren besuchte Dowe das hiesige Archiv, um sich mit lokalen Archivalien über Matthias Erzberger zu beschäftigen. Seit 1903, mit gerade mal 28 Jahren, nämlich vertrat Erzberger als Mitglied des Reichstags den Wahlkreis Biberach, Leutkirch, Wangen, Waldsee als katholischer Zentrumsabgeordneter. Im August 1921 verbrachte Erzberger mit seiner Familie einen kurzen Erholungsurlaub im Bad Griesbacher Müttergenesungsheim und wollte anschließend zum Katholikentag nach Frankfurt. Am 26. August, ein trüber Sommertag, traf er sich mit dem befreundeten badischen Zentrumsabgeordneten Carl Diez. Am Vormittag unternahmen sie einen gemeinsamen Spaziergang und wollten zum Mittagessen zurück sein. Unterwegs wurden sie von zwei jungen Männern überholt, die ihnen dann wieder begegneten und Pistolen auf die beiden Politiker richteten. Erzberger wurde durch gezielte Kopfschüsse sofort tödlich verletzt und rollte bis zum Stamm einer Tanne. Diez ging mit seinem Schirm auf die beiden los, wurde aber ebenfalls von den Mördern angeschossen, schwer verwundet überlebte er aber den Anschlag. Die Todesnachricht musste der örtliche katholische Pfarrer der Familie überbringen. Dies war der erste Mord an einem amtierenden Politiker in der von Hass und Hetze gespaltenen jungen Weimarer Republik.

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Die Mörder fanden Aufnahme in Ungarn

Bei den Mördern handelte es sich um die ehemaligen Offiziere Heinrich Schulz und um Heinrich Tillessen, Mitglieder der Freikorps-Brigade Erhardt, die bereits 1920 am gescheiterten Kapp-Putsch beteiligt war. Sie gehörten zudem der rechtsterroristischen Organisation „Consul“ an. Der Bestrafung entzogen sie sich durch Flucht nach Ungarn, wo eine nationalistische Militärjunta an der Macht war.

Der Mord war die logische Folge von nationalistischen Hasskampagnen gegen die junge deutsche Demokratie. Erzberger hatte im November 1918 im Auftrag Hindenburgs im Wald von Compiègne den Waffenstillstand an der Westfront unterzeichnet und ein Jahr später den von den Rechten als Schande bezeichneten Vertrag von Versailles und galt in der rechten Szene fortan als „Novemberverbrecher“, wie auch Reichsministerpräsident Philipp Scheidemann. Letzterer trat aber wegen der überharten Auflagen des Friedensvertrags zurück.

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30.000 Trauergäste bei der Beerdigung in Biberach

Das Attentat versetzte die Republik in einen nationalen Schock, der sich in Demonstrationen und massenhaften Teilnahmen an den Trauerfeierlichkeiten äußerte. In Berlin demonstrierte eine halbe Million, mindestens 10 000 in Stuttgart und zur Beisetzung in Biberach kamen ca. 30 000 Trauergäste, allen voran Reichskanzler Joseph Wirth. Biberach hatte damals gerade mal 10 000 Einwohner!

Dagegen bejubelten nationalistische Kreise das Attentat. Studenten sangen dazu: „Nun danket alle Gott für diesen braven Mord. Den Erzhalunken scharrt ihn ein, heilig soll uns der Mörder sein, die Fahne schwarz-weiß-rot.“ Der damals noch unbedeutende Adolf Hitler verunglimpfte den Ermordeten als Sympathisanten des Zionismus und damit als Vorboten jüdischer Staatlichkeit: „Johannes des Judenstaates – Matthias von Buttenhausen.“ Erzberger war aber bekanntlich Katholik.

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Dowe skizzierte Herkunft und Prägung Erzbergers. Er entstammte ärmlichsten Verhältnissen und brachte es dennoch bis auf die damalige Weltbühne der Politik, geboren am 20. September 1875 in Buttenhausen, heute einer der 13 Teilorte der Stadt Münsingen. Sein Vater war Schneider und Postbote, später Gemeindepfleger. Buttenhausen bestand aus je einer großen evangelischen Gemeinde und einer großen jüdischen Gemeinde und einer kleinen katholischen Minderheit.

Ein tolerantes Nebeneinander

Synagoge und evangelische Kirche standen sich quasi in Augenhöhe tolerant gegenüber. Erzberger wurde von den Eltern über evangelische und katholische Schulen ins Gymnasium in Schwäbisch Gmünd und Saulgau geschickt und wurde ab 1895 Volksschullehrer in Marbach, Göppingen und Feuerbach. Daneben war er in katholischen sozialpolitischen Vereinen aktiv, schrieb Artikel für das Deutsche Volksblatt in Stuttgart und hielt Vorträge in ganz Württemberg.

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1898 in Waldsee, 1903 in Reute

1898 besuchte er auch Waldsee zu einem Vortrag im damaligen Gesellenhaus. Dafür wurde er von den Teilnehmern mit Hochrufen gewürdigt. 1903 besuchte er auch Reute zu einem Vortrag. Anliegen Erzbergers war dabei, die Menschen zu Zusammenschlüssen zu motivieren, um ihre Interessen wirksamer zu vertreten. Den Vereinen misstraute die Monarchie, man befand sich ja damals noch im Kulturkampf, wobei Deutschland doch eine evangelische Nation zu sein hatte, bei starker katholischer Minderheit.

Wachsende Popularität

1903 schließlich wurde Erzberger über das Zentrum in den Reichstag gewählt. Dieses Parlament hatte damals noch keine entscheidende Bedeutung. Kaiser und Militär trafen die politischen Entscheidungen am Parlament vorbei. Selbst die Entscheidung zum Kriegseintritt 1914 erfolgte ohne Parlamentsentscheidung! 1905 wagte Erzberger scharfe Kritik an Missständen und Korruption  in der Kolonialpolitik, was der Leiter der Kolonialabteilung Ernst zu Hohenlohe-Langenburg zusammen mit dem Kaiserhaus mit „Ehrabschneider“, „unzuverlässig“ und „Verräter“ umschrieb; Aufstände in den Kolonien wurden der SPD und dem Zentrum angelastet. Trotzdem wuchs Erzbergers Popularität ständig. Dowe belegte dies mit einem Werbeplakat des Bergatreuter Nudelfabrikanten Ludwig. Dort wurden „hochprima Oberschwabennudeln der Marke Erzberger“ angepriesen!

Eier-Nudeln der Marke “Erzberger”. Werbemarke (nach 1912).

Früh für einen Verständigungsfrieden

Nachdem Erzberger noch 1914 für deutsche Annexionspläne war, änderte sich seine Meinung dazu im Kriegsverlauf radikal. Eine von ihm im Reichstag durchgesetzte Resolution für einen Verständigungsfrieden löste im Kaiserreich ein wahres Beben aus. Nicht nur die Beendigung des Krieges war seine Zielsetzung, sondern auch der Versuch, die Rolle des Parlaments zu stärken. Die Reaktion der Mächtigen und Presse: „Vaterlandsverscharrer, Zerstörer der protestantischen Macht.“ Nachdem aber auch die letzte Offensive der deutschen Truppen 1918 gescheitert war, erkannte der allmächtige General Ludendorff die aussichtslose Lage, gab seine rigide Führungsrolle auf und warb gar für eine Parlamentarisierung der Politik, was wohl das Eingeständnis der Niederlage war. Im Oktober 1918 wurde Max von Baden Reichskanzler und bildete ein Übergangskabinett, bestehend vorwiegend aus südwestdeutschen Ministern. Erzberger wurde Minister ohne Geschäftsbereich, zuständig für die Waffenstillstandsverhandlungen und Leiter der Delegation im Wald von Compiègne, womit die Kampfhandlungen am 11. November 1918 beendet werden konnten. Inzwischen hatte sich der Kaiser in die Niederlande abgesetzt und Scheidemann die Republik ausgerufen. 1919 schuf sich die Republik ihre demokratische Verfassung in Weimar. Reichskanzler war Adolf Bauer. Man stand vor der Alternative Einmarsch der Alliierten und Zerstückelung des Reiches oder Frieden zu extrem harten Bedingungen. Erzberger trug entscheidend zur Annahme des Versailler Friedensvertrags bei. Im neuen Kabinett als Finanzminister übernahm er die schier unmögliche Aufgabe der Reparationsleistungen. (Die letzte Rate dazu wurde übrigens am 3. Oktober 2010 (!) beglichen. Anm. d. Verfassers)

Matthias Erzberger 1919 in Weimar (sein Begleiter rechts könnte Adenauer).

In nur neun Monaten erarbeitete Erzberger eine moderne Finanzreform, deren Grundzüge bis heute Bestand haben. Eingeführt wurden die Reichseinkommen-, die Reichsvermögen-, die Umsatz-, die Grunderwerb-, die Erb- und die Kapitalertragsteuer. Damit waren Gleichbehandlung und Leistungsgedanke in einer einheitlichen Finanzverwaltung gesichert.

Die Heimat fällt den kämpfenden Soldaten an der Front in den Rücken. Extremistische Darstellung von 1924. Auf zwei Stahlhelmen sind Hakenkreuze erkennbar. Der Messerführende trägt die Züge des sozialdemokratischen Spitzenpolitikers Philipp Scheidemann. Hinter ihm sieht man, die Szene zigarrenrauchend genießend, Matthias Erzberger. Weiter erkennbar: Zerrbilder zweier jüdischer Menschen.

Insbesondere Ludendorff und nationalistische Kreise schürten nun Hetze und Hass gegen die Republik und propagierten die Dolchstoßlegende. Erzberger entging schon vor 1921 Attentatsversuchen. 1920 wurde ein Geschoss von seiner Uhrenkette abgeschwächt und eine Handgranate wurde in Esslingen durch ein Fenster geworfen. Darauf spotteten die Rechten, er sei nicht kugelsicher aber kugelrund.

Höchste Verdienste um die Demokratie

Dowes Fazit: Erzberger habe sich als Wegbereiter der Demokratie höchst verdient gemacht. Sprache, Hass, Hetze und Gewalt seien ernste Gefahren für eine Demokratie. Daher sei es gerade heute wichtig, sich für die Demokratie einzusetzen und sich zu engagieren im Kleinen wie im Großen. Streit gehöre zur Demokratie, aber auch der Respekt für unterschiedliche Meinungen.

Wild dankte Dowe im Namen aller für den sehr informativen Beitrag und überreichte ihm ein Weingeschenk.

Am 27. November ein Vortrag über den „Bauernjörg“

Die Vortragsreihe wird am 27. November fortgesetzt mit dem Thema „Herzog Ulrich und der Bauernjörg“.
Text und Fotos (Vortragsbilder): Peter Lutz




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