Der Fall Allgaier
Sie hatte das drittbeste aller 22 CDU-Kandidaten. 10 Stadträte stellt die CDU im neuen Bad Wurzacher Gemeinderat. Sieben der 10 Gewählten haben weniger Stimmen als sie erhalten. Dennoch sitzt sie nicht im neugewählten Gemeinderat.
Die Rede ist von Sibylle Allgaier, die mit 3105 Stimmen mehr Wählervoten auf sich vereinigen konnte als ihre Listen-Kollegen aus Dietmanns und Ziegelbach zusammen, welche mit 1347 respektive 1358 jeweils einen Sitz im neuen Rat zugeteilt bekamen.
Wie kommt so etwas zustande?
Das liegt am Verfahren der Unechten Teilortswahl. Dieses Verfahren garantiert jeder der neun Bad Wurzacher Ortschaften sowie dem Kernort eine bestimmte Anzahl an Sitzen. Das Wahlverfahren stammt aus der Zeit der Eingemeindungen, also aus den 1970er-Jahren. Es ist nach wie vor laut der Gemeindeordnung, einem Landesgesetz, ein gängiges Wahlverfahren, das anzuwenden oder nicht anzuwenden einer jeden Gemeinde anheimgestellt ist. Die Gemeinden regeln das in ihrer Hauptsatzung und können die Unechte Teilortswahl jederzeit per Ratsbeschluss abschaffen.
In den 1970er-Jahren hatten die meisten Flächengemeinden sich für das Wahlverfahren der Unechten Teilortswahl entschieden, um die Schmerzen der Eingemeindung für die aufgelösten Altgemeinden zu lindern. Ein halbes Jahrhundert ist seit der Gemeindereform vergangen und viele der Großgemeinden haben inzwischen einen guten Gemeinschaftsgeist entwickelt – auch für Bad Wurzach, mit 182 Quadratkilometern flächenmäßig die drittgrößte der 1101 Gemeinden in Baden-Württemberg, lässt sich das mit Fug und Recht sagen.
In jüngerer Zeit wird die Unechte Teilortswahl zunehmend hinterfragt. Die große Flächengemeinde Leutkirch mit acht Ortschaften und 175 Quadratkilometern hat sie abgeschafft, ebenso das kleinere Aulendorf, zu dem drei Altgemeinden gehören. Bad Waldsee mit vier Ortschaften und Kißlegg mit deren zwei wenden das Verfahren nach wie vor an.
In der sehr großen Flächengemeinde Bad Wurzach ist es so, dass dem Kernort 7 Sitze, den größeren Ortschaften (Arnach, Seibranz, Hauerz und Unterschwarzach) jeweils 2, den kleineren Ortschaften (Dietmanns, Eintürnen, Gospoldshofen, Haidgau und Ziegelbach) jeweils 1 Sitz im Stadtparlament garantiert sind. In Bad Wurzach ist die Gewichtsverteilung zwischen Stadt und Land atypisch; der Kernort ist relativ klein im Verhältnis zur Summe der Dörfer. Das Einwohnerverhältnis zwischen Stadt und Land ist ungefähr 1:2. Das spiegelt sich in der Sitzzahlgarantie wider: Der Kernstadt sind laut Hauptsatzung 7 Sitze zugeteilt, den Landgemeinden 13.
Anders gesagt: Einen Stadt-Gemeinderatssitz zu ergattern ist ungleich schwerer als einen einer Ortschaft zustehenden Sitz zu erobern.
Hier kommt unsere tüchtige Sibylle Allgaier, die seit zehn Jahren für den Kernort im Gemeinderat sitzt, ins Spiel. Ihr tolles Ergebnis mit 3105 Stimmen reicht eben nicht für einen Sitz im neuen Gemeinderat, weil ihre CDU mit 17.790 Stimmen ganz knapp am dritten Mandat im Kernort verbeigeschrammt ist. Dort haben die Freien Wähler mit 17.821 Stimmen 31 Wählervoten mehr auf sich vereinigt und damit ein drittes Kernortsmandat gewinnen können (die Mandate Nummer sechs und sieben fielen an Mir Wurzacher und die Grünen).
Dass die CDU das dritte Kernortsmandat eingebüßt hat, hängt mit dem erstmaligen Auftreten der Grünen zusammen, denen rechnerisch 1 Kernstadtmandat zusteht; das ist ihrem Kandidaten Rainer Deuschel zugefallen, der gemeindeweit 1427 Stimmen auf sich vereinigen konnte (aus dem Kernort: 521; Sibylle Allgaier aus dem Kernort 1238).
Hätten die Grünen, die mit – gemeindeweit – 9566 Stimmen 2 Mandate errangen (außer für Deuschel ein Ausgleichsmandat in Hauerz), im Kernort nur 7 Stimmen weniger erhalten, wäre deren Kernortsmandat an Frau Allgaier gefallen. Rainer Deuschel wäre dennoch im Gemeinderat mit Sitz und Stimme vertreten: Seine 1427 Stimmen hätten für ein Ausgleichsmandat gereicht. Der Kernort wäre dann mit 8 Stadträten im Gemeinderat repräsentiert.
Die vorstehenden Überlegungen sind den Finessen der Mandatszuteilung gemäß dem Höchstzahlverfahren nach Sainte-Laguë/Schepers geschuldet, verschärft durch die Basisregelung der Unechten Teilortswahl. Entscheidend sind nun diese zwei Fragestellungen: Wie steht es mit der Gleichwertigkeit der abgegebenen Stimmen? Und wie wichtig ist uns eine flächendeckende Repräsentanz?
Anders gesagt: Die Unechte Teilortswahl muss auf den Prüfstand.
Wir von der Bildschirmzeitung „Der Wurzacher“, die wir die Sache nur beobachten und nicht entscheiden müssen, wir plädieren für die Abschaffung der Unechten Teilortswahl auf Gemeindeebene und sind dabei überzeugt davon, dass jede der neun Ortschaften auch fürderhin im Gemeinderat mit Sitz und Stimme vertreten sein wird. Vielleicht da und dort mit nur einem Stadtrat statt deren zwei – aber immerhin. Zudem sind die neun Ortsvorsteher kraft Amtes beratendes Mitglied im Gemeinderat – ihr Wort wiegt schwer und wird gehört. Und: Der Gemeinderat denkt und handelt gesamtgemeindlich, Kirchturmdenken ist out.
Mit der Abschaffung der Unechten Teilortswahl werden die dramatischen Verwerfungen – mit 3105 draußen, mit 1347 drin – der Vergangenheit angehören. Da nach wie vor Listen antreten werden und somit eine Verhältniswahl durchgeführt werden wird, kann es auch künftig vorkommen, dass ein stimmenstärkerer Kandidat nicht zum Zuge kommt, ein schwächerer Vertreter einer stärkeren Liste aber doch. Dennoch wird es individuell gerechter ablaufen als jetzt.
Anders sehen wir die Unechte Teilortswahl auf Ortschaftsebene. Sie wird ja in den stark parzellierten Teilgemeinden Gospoldshofen, Dietmanns und Unterschwarzach angewandt. In etlichen der dortigen Wohnbezirke hatte es nur so viele Kandidaten gegeben wie Plätze im entsprechenden Ortschaftsrat garantiert waren. Hier war keine Wahl gegeben; man könnte von Delegation sprechen, von der Entsendung von Weiler-Ältesten in den Dorfrat. Ist unseres Erachtens im Interesse des Ortschaftszusammenhalts vertretbar.
Auf Gemeindeebene aber sollte man Vor- und Nachteile der Unechten Teilortswahl emotionsfrei abwägen und endlich zu einer Entscheidung kommen.
Gerhard Reischmann