„Noch nie war unsere Demokratie so bedroht wie jetzt“
Aulendorf – Erstmals in Aulendorf, einem Ort für einen Urlaub, so ihr erster Eindruck, war die Landtagspräsidentin Muhterem Aras, aus Stuttgart angereist. Sie dankte dem anwesenden Bürgermeister Matthias Burth für die Bereitstellung des schönen Marmorsaals zu der Veranstaltung „Demokratie unter Druck“ mit etwa 100 Zuhörerinnen und Zuhörern, zu der die Landesvertretung Deutscher Sinti und Roma Baden-Württemberg und der BUND Aulendorf eingeladen hatten.
Blick in den Saal. Vorne rechts Aulendorfs Bürgermeister Matthias Burth. Neben ihm Bruno Sing, einer der Veranstalter.
Das Thema „Demokratie leben“ habe heute einen anderen Ton, der mehr erklären und vermitteln müsse. Aras bezeichnet das Grundgesetz als „Hausordnung für unser Zusammenleben“, den der Parlamentarische Rat 1948 mit seiner visionären Arbeit Baustein für Baustein, Artikel für Artikel, errichtet habe. Waren anfangs viele Deutsche gegen die Gleichberechtigung von Mann und Frau, gegen die Abschaffung der Todesstrafe und die wenigsten empfanden die Bundesrepublik besser als das Kaiserreich oder das Dritte Reich, konnten sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes in ihrem Streben nach Demokratie gegen die vielen übrigen Nazis in der Bundesrepublik durchsetzen. Aras erinnerte an die großen Bewegungen und Ereignisse wie die Emanzipationsbewegung, den Zuzug der sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter, die Studierenden-Proteste, den Kniefall von Warschau und die Friedliche Revolution „Wir sind das Volk“ als Selbstverständnis der Bundesrepublik.
Daneben gab es aber vor allem die Demokratie des Alltäglichen in all den Bereichen, die sich durch das Grundgesetz entfalten konnten, in Vereinen und Verbänden, Schulen und Volkshochschulen, in der freien Kunst und der freien Presse. Haben wir uns als Gesellschaft es irgendwann zu bequem gemacht und die Demokratie für zu selbstverständlich gehalten, fragt Aras, und mahnt: „Noch nie in den 75 Jahren der Bundesrepublik war unsere Demokratie so bedroht wie jetzt.“
„Remigration bedeutet Deportation“
Unter dem Eindruck der Gedenkfeier am Freitag in Mannheim für einen nach einem mutmaßlich islamistischen Anschlag getöteten Polizisten, gibt sie ihrer Bestürzung und Trauer um Rouven Laur Ausdruck. Dass seine kaltblütige Ermordung nun von Islamisten, Rechts- oder Links-Extremisten instrumentalisiert oder gar bejubelt wird, das sei unfassbar und unfassbar anstandslos. Mit spontanem Beifall wird ihre Erwartung begleitet, dass der Rechtsstaat seine Zähne zeige gegenüber allen, die auf so menschenverachtende Weise Straftaten billigen, bejubeln oder gar zu weiteren Straftaten aufrufen. Nein, für islamistischen Extremismus oder auch Linksextremismus dürfe die Gesellschaft nicht blind werden, nur weil sie endlich die Gefahr von rechts ins Auge fasse. Und doch sei glasklar, nichts bedrohe die Menschen, die Institutionen und die Grundordnung dieser Republik derzeit so sehr wie der Rechtsextremismus. Das beschönigende Wort „Remigration“, das nach dem Potsdamer Neonazi-Treffen Millionen Deutsche zu Gegenkundgebungen aufgerüttelt hatte, meine Deportation und stand bereits in den Wahlprogrammen der AfD, einer Partei, die der Verfassungsschutz als zu Teilen gesichert rechtsextrem einstuft.
„Die Saat des Hasses“
Remigration wurde Unwort des Jahres und zeige wie die Unworte der Vorjahre, Corona-Diktatur, Rückführungs-Patenschaften, Anti-Abschiebe-Industrie, Alternative Fakten, Volksverräter, Gutmensch, Lügenpresse eine Saat des Hasses. Hass beginne, so die Publizistin Carolin Emcke in ihrem Buch „Gegen den Hass“, mit der Verallgemeinerung in der Sprache: „Die Politiker“, „Die Medien“, „Die da oben“, „Die Weiber“, „Die Juden“, „Die Ausländer“. In der Verallgemeinerung könne man dem Individuum zum Sündenbock für alles machen. Mit dieser Erzählung wachse die Wut und herrsche der Hass. Die Demokratiefeinde sprechen von „dem Volk“, das angeblich mit einer Stimme spreche, nämlich mit ihrer, und behaupten, einen einheitlichen Volkswillen zu vertreten, stellte die Landtagspräsidentin fest und kennzeichnete die Haltung schlicht und einfach als populistisch. Die Fantasien eines Björn Höcke zu einem ethnischen Volksbegriff bezeichnete Aras als rassistisch; damit werde Artikel 1 des GG verletzt („Die Würde des Menschen ist unantastbar“), wie das Bundesverfassungsgericht gerade erst klargestellt habe.
Ebenfalls auf dem Potsdamer Geheimtreffen wurde die Kündigung der Rundfunk- und Staatsverträge, die Abschaffung der Pressefreiheit durch eine eigene Medienplattform diskutiert. Wie an den Beispielen Ungarn und früher Polen sichtbar, stehe der Angriff auf die freie Presse immer am Anfang einer Autokratie. Die rechtsextreme Sprache kündige auch Gewalt an: “Erst wird gesagt, dann wird getan!“ Dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke gingen Morddrohungen voraus, verbale und tätliche Gewalt gegen Personen in der Öffentlichkeit nehmen stark zu und sie erinnert an die Fackelmärsche vor Privathäusern von Amtsträgerinnen und Amtsträgern, Pläne, den Bundesgesundheitsminister zu entführen und die Umsturzpläne der Reichsbürgerbewegung. Auch andere Hassverbrechen nehmen zu, rassistische, antisemitische und antiziganistische. Aras zitiert einen aktuellen Bericht, wonach eine Sinti-Familie aus Trier, die Familie eines Holocaust-Überlebenden, deren Haus mit Hakenkreuzen und dem Z-Wort beschmiert wurde, Angst habe, ihr Haus zu verlassen, weil sie sich nicht mehr sicher fühle. Unter großem Applaus forderte Aras, „haltet zusammen“, eine klare Haltung und Positionierung aller Bürgerinnen und Bürger, aller Demokratinnen und Demokraten sei gefragt. Deshalb sei es so wichtig, dass sich die Kirchen positioniert haben, weil sie sagen, dieser Menschenhass sei mit dem christlichen Glauben nicht zu vereinbaren. Deshalb sei es so wichtig, dass sich auch die Wirtschaft positioniert habe, weil sie sage, diese erstarkende demokratiefeindliche Partei AfD ist ein Standortrisiko. Ergänzend, so Aras, würde jene Partei rein gar nichts für diejenigen verbessern, die es am schwersten haben. Sie würde Subventionen streichen, Sozialleistungen verringern, Steuern für Reiche senken. Sie würde aus der EU austreten, die Wirtschaft vergraulen und Arbeitsplätze gefährden. “Diese Partei gefährdet unseren Wohlstand. Sie steht für Verarmung und Unsicherheit.”
“Zeigt den Demokratiefeinden die Rote Karte!” Landtagspräsidentin Muhterem Aras sprach Klartext im Marmorsaal.
Die Landtagspräsidentin fordert dazu auf, sich mit Menschen auszutauschen, die anderer Meinung sind und sofern sie gesprächsbereit seien. Zweitens fordert sie eine rote Linie bei jeder Art von Ausgrenzung und Menschenfeindlichkeit. Drittens wirbt sie, sich für Parteien und Vereine zu engagieren, die auf dem Boden der Verfassung stehen. Zum Schluss fordert sie bei der Veranstaltung am Freitag auf: Gehen wir massenhaft zur Wahlurne, nehmen Sie zehn Leute mit und zeigen sie den Demokratiefeinden die Rote Karte, indem wir unsere Stimme für Parteien, die auf dem Boden der Verfassung stehen, abgeben.
Die zweite Rednerin Natalie Reinhardt vom Sinti-Powerclub e.V. aus Ravensburg beginnt mit einem Gruß in Romanes, der Sprache der Sinti, um zu verdeutlichen, dass die eigenen Leute zu oft am Rande stehen und nicht beachtet werden. Reinhardt weist darauf hin, dass Sinti und Roma Europas größte Minderheit sind. Erst 40 Jahre nach dem Holocaust-Völkermord wurden sie rechtlich anerkannt. Wenige hatten den Holocaust überhaupt überlebt.
Bekannt sind die Vorurteile und Diskriminierungen gegen die Volksgruppe und trotz Staatsvertrag werden sie oft von Mitsprache ausgeschlossen. Ganz im Gegensatz dazu, steht Reinhardt, die schon als Lehramtsstudentin im Ravensburger „Ummenwinkel“ Kinder und Schüler in der Bildungsarbeit unterstützte und anleitete. Mit ihrer Zivilcourage und ihrem Empowerment gründete sie 2018 den Sinti-Powerclub und hat seitdem den Vorsitz inne.
Die Vita von Muhtreem Aras
Auch Muhturem Aras kam 1978 als Zwölfjährige mit ihrer Familie aus einem kleinen Dorf in Ostanatolien nach Filderstadt, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen. Dank der Willkommenskultur ihrer Nachbarn und ihrer Schule gelang es ihr, sich zu integrieren und Deutschland als ihre Heimat zu empfinden. Mehr noch, geschockt durch die fremdenfeindlichen Gewalttaten Anfang der 1990er-Jahre in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen begann sie sich zu engagieren, während sie Wirtschaftswissenschaften an der Uni Hohenheim studierte. 1999 wurde sie zum ersten Mal in den Stuttgarter Gemeinderat gewählt, von 2007 bis 2011 war sie auch eine der beiden Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Stadtrat. 2011 durfte sie erstmals den Wahlkreis 1 im Landtag von Baden-Württemberg vertreten, wurde finanzpolitische Sprecherin ihrer Fraktion. 2016 gelang es ihr, als landesweite Stimmenkönigin ihr Direktmandat zu verteidigen. Am 11. Mai 2016 wurde sie von den Abgeordneten zur Präsidentin des Landtags gewählt, als erste Grüne und erste Frau aus einer Zuwandererfamilie in diesem hohen Staatsamt. Dort verteidige sie wie eine Schiedsrichterin die Debattenkultur und scheute sich nicht davor, den AfD-Politiker Emil Sänze, der sie beleidigte, mit Hilfe der Polizei aus dem Landtag räumen zu lassen, als er rassistisch bestritt, dass sie mit ihrer Herkunft für Deutschland sprechen könne, obwohl Aras ausschließlich die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt.
Petra Krebs: Medienkompetez vermitteln
In der anschließenden Diskussion moderierte die Landtagsabgeordnete Petra Krebs die Anmerkungen der Zuhörerinnen und Zuhörer zu den angesprochenen Themen wie Gleichberechtigung von Frauen in den Kirchen, soziale Medien und zu verallgemeinerten Bemerkung, „soziale Medien sind asozial“. Differenzierter gesagt, ist Medienkompetenz eine Aufgabe der Schule und Bildung und Aras unterstützt diese Aufgabe mit rund 25 Auftritten pro Jahr in Schulen landesweit. Auch der Umgang mit Coronaleugnern wurde thematisiert. Den Vorwurf, die Presse melde bevorzugt Sensationen, entkräftete Aras mit einer Studie zur Lokalpresse. Dort wo diese noch existiere, sei eine höhere Wahlbeteiligung zu verzeichnen.
Musikalisch eingerahmt wurde die Veranstaltung durch den Freiburger Jazzmusiker und Sinti Ismael Reinhardt.
Text und Bilder: Gerhard Maucher