„Schockenhoff durchschaute das System Putin früh“
Ravensburg – Im Rahmen der von MdB Axel Müller (CDU) nach dem Tode des langjährigen hiesigen Bundestagsabgeordneten Dr. Andreas Schockenhoff ins Leben gerufenen „Schockenhoff-Lecture“ waren am vergangenen Freitag (13.12.) Prof. Stephan Harbarth, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, und Dr. Irina Scherbakowa, Friedensnobelpreisträgerin der russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial“, im mit gut 500 Gästen voll besetzen Konzerthaus Ravensburg zu Gast. Ravensburgs OB Dr. Rapp konnte in seinem Grußwort unter vielen anderen Prominenten Innenminister Thomas Strobl und Annette Schavan, die ehemalige Kultusministerin, als Gäste willkommen heißen. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts hat protokollarisch das fünfthöchste Amt im Staat inne.
Das neubarocke Ambiente des Konzertsaals bot einen auffälligen Kontrast zur tagesaktuellen politischen Podiumsdiskussion, verlieh der Veranstaltung aber dadurch auch eine gefühlte Feierlichkeit. Fand sie doch in Erinnerung an den zehnten Todestag von Andreas Schockenhoff statt.
Leitthema unter der Moderation des international bekannten Journalisten Christoph Plate war die Frage nach Stabilität und Zukunft von Demokratie und Werteordnung in einer sich dramatisch verändernden Welt. So generell gefasst, ließ das Thema viel Raum für die persönlichen Gedanken und Überzeugungen der Diskutanten, die davon auch redlich Gebrauch machten.
Harbarth sieht grundlegenden Ost-West-Gegensatz
Verfassungspräsident Harbath nutzte sein Statement, die Entwicklung des deutschen Rechtssystems im Kontext der französischen Revolution zu beleuchten. Mit Blick auf das heutige Europa sah er im Westen eher einen Ausbau des europäischen Ansatzes, während er östlich der EU eine Rückwendung zu nationalen Interessen feststelle. Gesellschaftliche Krisen in Ost und West seien überdies Folge individualistischer Bestrebungen. „Was hält unsere Gesellschaft im Kern zusammen?“, gab er dem Auditorium als Frage mit auf den Weg.
„Was hält unsere Gesellschaft im Kern zusammen?“ Diese Frage treibt den Verfassungsrichter um, diese Kernfrage gab er dem Auditorium mit auf den Weg.
„Er war visionär“
Dr. Scherbakowa beschrieb in ihrer Rede im besten Deutsch ihre sehr persönliche Beziehung zu Andreas Schockenhoff, die schon vor der Annexion der Krim 2014 von einer übereinstimmenden Einschätzung des „Systems Putin“ geprägt war. Schockenhoffs Engagement für die russische und ukrainische Zivilgesellschaft sei visionär gewesen, geradezu zeitlos, wenn man die heutige Situation anschaue. Für einen dauerhaften Frieden zwischen Russland und der Ukraine hatte sie eine pessimistische Einschätzung. „Putin kämpft gegen Humanismus, gegen demokratische Werte und für eine russische Hegemonie“, waren ihre Worte.
Die russische Menschenrechtsorganisation „Memorial“ hat im Jahre 2022 den Friedensnobelpreis verliehen bekommen. Dr. Irina Scherbakowa ist ein Gesicht dieser Initiative.
Kritik an sozialen Medien
Christoph Plate stellte in der Diskussion zunächst die Frage nach dem Einfluss sozialer Netzwerke auf die öffentliche politische Diskussion. Beide Diskutanten bekräftigten dies durchaus kritisch. „Populismus arbeitet mit Mythen“, urteilte Prof. Harbath. Auf die Frage, ob der Ukraine-Konflikt ein russischer oder Putins Krieg sei, antwortete Dr. Scherbakowa sehr diplomatisch. Man hatte auch im weiteren Verlauf den – nicht unsympathischen – Eindruck-, dass sie sich zwischen ihrer Rolle als Gallionsfigur von „Memorial“ und ihren persönlichen Überzeugungen auf einem Minenfeld bewegte.
Wie Kriegsverbrechen verfolgen?
Die zunächst an Verfassungspräsident Harbath gerichtete Frage nach den deutschen Möglichkeiten, dortige Kriegsverbrechen zu verfolgen, entgegnete er in Richtermanier: „Ja, wir können und wir müssen, aber nach rechtsstaatlichen Grundsätzen“, woran natürlich nichts auszusetzen war. Dr. Scherbakowa sah die Möglichkeiten einer Beweisführung aus westlicher Ferne kritisch. In allen jüngeren Konflikten sei ein Niedergang des Kriegsvölkerrechts zu beobachten. Auch hier bestimmten russische und ukrainische soziale Medien die öffentliche Wahrnehmung.
Schockenhoff-Zitat zum Schluss
„Putin versteht nur Stärke“, so zitierte Christoph Plate den verstorbenen Andreas Schockenhoff zum Abschluss. Und er erntete keinen Widerspruch.
Text und Fotos: Christian Leggemann