Hastig und hochmütig
Die Ampel ist zwar ausgeschaltet. Aber wir haben nach wie vor eine rot-grün-gelbe Mehrheit im Bundestag; der kann noch bis zum letzten Sitzungstag der ablaufenden Legislaturperiode Gesetze beschließen – also bis Anfang, Mitte Februar.
Der nächste Bundestag, das zeichnet sich ab, wird deutlich konservativer zusammengesetzt sein. Das Fenster für „progressive“ Beschlüsse schließt sich also demnächst. Das ruft die letzten Bataillone der zerbrochenen Fortschrittskoalition samt Kombattanten von der Linkspartei auf den Plan. Jetzt, so ihr Ansinnen, gilt es, noch rasch die ersehnte Fristenregelung – Abtreibung in den ersten zwölf Wochen generell straffrei gestellt – beim Schwangerschaftsabbruch durchzudrücken, ehe die alten weißen Männer um Merz das Sagen haben.
Kurz vor Torschluss also hat eine Abgeordneten-Gruppe noch einen Gesetzesantrag zur Streichung des Paragrafen 218 im Strafgesetzbuch und aufgeweichten Neuregelung im Schwangerschaftskonfliktgesetz auf den Weg gebracht. Mitten unter diesen Aktivisten trommelt auch die Ravensburger SPD-Abgeordnete Heike Engelhardt für eine Neufassung des Abtreibungs-„Rechts“. Mitte November hatten 236 Abgeordneten unterzeichnet; inzwischen sind 327 Parlamentarier der Initiative beigetreten (Stand: 3. Dezember; der Bundestag hat derzeit 733 Mitglieder).
Mit großer Hast soll so eine tiefgreifende Veränderung erzwungen werden. Das wird der enormen Bedeutung des Themas in keiner Weise gerecht.
Die bestehende Regelung ist ein Kompromiss, der nach jahrzehntelangem gesamtgesellschaftlichem Diskurs gefunden wurde. Kern ist ein Verfassungsgerichtsurteil, das das Recht auf Leben des Ungeborenen betont.
Einen weitgehend akzeptierten Kompromiss holterdipolter aufzukündigen, ist nicht angemessen. Es bräuchte zuvor die große gesellschaftliche Debatte.
Fragen von Leben und Tod auf eine Kurzzeit-Agenda zu setzen, nein, das ist nicht in Ordnung. So geht man mit Artikel 1 Grundgesetz nicht um.
Wie heißt der noch gleich? Ach ja: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Aber ist ein Fötus ein Mensch?
Hier beginnen sie, die ganz großen Fragen von Ethik und Moral, von Schuld und Sünde. Ja, Sünde – welch altmodisches Wort.
Und einen so hochkomplizierten Sachverhalt wollen sie in den wenigen Wochen bis zur Neuwahl durchgeregelt haben?!
Was für ein Hochmut! Was für ein Kleingeist!
Gerhard Reischmann