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Vor 25 Jahren gestorben

Inge Aicher-Scholl – die Frau, die der Erstarrung entgegentrat



Foto: Rupert Leser
Inge Aicher-Scholl. Wir erinnern an eine führende Persönlichkeit der Friedensbewegung. Auf dem Bild von 1983 ist auch ihr Mann Otl Aicher zu sehen.

Leutkirch-Rotis (rei) – Vor 25 Jahren starb Inge-Aicher-Scholl. Unvergessen ist sie – klingt paradox – als Kämpferin für den Frieden. Ein Vierteljahrhundert lang lebte sie in Rotis, einem idyllischen Weiler bei Leutkirch, den sie und ihr Mann Otl Aicher zu einem Sammelpunkt für Kreative gemacht hatten. Christine Abele-Aicher, die Schwiegertochter, hat 2012 ein Erinnerungsbuch herausgebracht, das in die Hand zu nehmen immer wieder lohnend ist.

Christine Abele-Aicher, verheiratet mit Julian, dem zweitjüngsten Aicher-Sohn, hat ihre Schwiegermutter nicht gekannt. „Als ich im Februar 2002 nach Rotis kam, war sie bereits vier Jahre tot“, schreibt sie im Vorwort ihres Buches „Die sanfte Gewalt. Erinnerungen an Inge Aicher-Scholl.“ Im Sommer 2011 entschloss sie sich, auf Spurensuche zu gehen, befragte Weggefährten, Zeitzeugen und Familienmitglieder. Etwa 50 Personen beschrieben Inge Aicher-Scholl in zum Teil sehr persönlichen Zeugnissen. Erhard Eppler ist darunter, Erwin Teufel, Gottfried Härle, der als Endzwanziger so manchen Tag in Rotis verbrachte, Ivo Gönner, der einstige Ulmer Oberbürgermeister, auch Rosa Salzgeber, die Köchin in Rotis, oder Elfriede Hoschkara, die 1947/1948 in der so innovativen, von Aufbruchgeist geprägten Volkshochschule Ulm Sekretärin war, jener vh, die von Inge Aicher-Scholl von 1946 bis 1974 geleitet wurde.

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Selbstverständlich sind die Geschwister in dem Buch sehr gegenwärtig, Hans und Sophie Scholl, die im Widerstand gegen die NS-Diktatur ihr junges Leben verloren. Zahlreiche zeitgeschichtlich wichtige Text-Zeugnisse zum privaten Bereich sind in dem Buch versammelt wie auch viele private Fotos, die guten Einblick geben in eine intellektuelle, nicht angepasste Familie.

Nicht angepasst? Nein, Inge wie auch ihre Geschwister Hans und Sophie hatten den neuen Staat zunächst euphorisch begrüßt. Das Bild auf Seite 138 zeigt Inge als BdM-Führerin im Jahre 1935. Zur Jungmädelzeit von Inge gibt es ein Interview mit Inges Jahrgängerin Irmgard Keßler (S. 133 ff).

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In den vielen Zeugnissen und Annäherungen wird aber der Gesinnungswandel der Geschwister Scholl deutlich. Das Buch ist in der Summe eine wunderbare Collage, die ein differenziertes Bild von Inge Aicher-Scholl und ihrem Umfeld ergibt.

Gesetzt ist das Buch in der Rotis, einer Schrift, die von Otl Aicher entwickelt wurde.

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Thomas Vogel erinnert an Inge Aicher-Scholl

Die Bildschirmzeitung hat den Ulmer Kulturjournalisten Thomas Vogel gebeten, an Inge Aicher Scholl aus Anlass ihres 25. Todestages, der inzwischen wenige Wochen zurückliegt (gestorben am 4. September in Leutkirch), zu erinnern. Thomas Vogel war der Lektor des Buches „Die sanfte Gewalt“. Hier sein Text:

„Die sanfte Gewalt.“ Ihr Image war ihr zum Ehrentitel geworden. Inge Aicher-Scholl war eine durchsetzungsstarke Persönlichkeit, die ein außergewöhnliches Lebenswerk hinterließ.

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In Ulm, wo sie aufgewachsen ist, wird die 1917 Geborene bis heute vor allem mit der Ulmer Volkshochschule (vh) in Verbindung gebracht, die sie mitgegründet und bis 1974 geleitet hat. Mit 29 machte sie sich mit einigen Mitstreitern, darunter ihrem späteren Mann Otl Aicher (damals 25 und Autodidakt) ans Werk, eine Hochschule zu gründen. Nicht irgendeine! Die 1953 gestartete „Hochschule für Gestaltung“ trat nicht weniger als die Nachfolge des legendären „Bauhauses“ an. Obwohl sie bereits 1968 unter innerem und äußerem Druck zerbarst, schrieb die HfG Geschichte. Ulm war in dieser kurzen Ära die Herzkammer der Gestalter-Moderne.

Beide Projekte wiederum stehen in enger Verbindung mit ihrer eigenen Familiengeschichte. Die Ermordung ihrer jüngeren Geschwister Hans und Sophie durch das nazistische Gewaltregime wurde Inge Aicher-Scholl zum Lebensthema. Die „vh“, wie sie bis heute abgekürzt wird, begriff sie von Beginn an als Chance, demokratisches Licht in eine durchweg kompromittierte Gesellschaft zu tragen. Rasch besaß die junge Institution republikweit einen so glänzenden Ruf, dass sich Literaten, Philosophen, Wissenschaftler und andere intellektuelle Geistesgrößen dieser Zeit bereitwillig nach Ulm aufmachten, um mit ihren Vorträgen die auch geistig-moralisch verwüstete Provinz wieder ein wenig mit Strahlkraft zu erfüllen.

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Die HfG sollte ursprünglich anknüpfen an die sehr weit gefasste politische Bildungsarbeit der vh und als „Hochschule für Politik“ dazu beitragen, eine neue Elite auf diesem Gebiet hervorzubringen. Nicht zuletzt als Nachwuchs für die Medien! Unter Max Bill, dem Gründungsrektor und Ex-Bauhäusler, wurden die Pläne in den Gestaltungsbereich gewendet. Ein Glücksfall, nicht zuletzt, weil Otl Aicher damit die nötige Luft unter den Flügeln bekam, um sein gestalterisches Talent wirkungsvoll entfalten und kommunizieren zu können. Eine komplexe Persönlichkeit auch er, ein Kraftmensch und Hypochonder, Patriarch und Vordenker zugleich.

1972 schlugen sie ihre Zelte in Rotis auf: ehemalige Mühle, Einöde, Rückzugsort, Mikrokosmos. Otl war jetzt endgültig angelangt im Gestalter-Olymp. Das von und mit ihm entwickelte Erscheinungsbild für die Olympischen Spiele 1972 in München machte weltweit Furore. Inge konzentrierte sich noch mehr darauf, die Erinnerung an ihre Geschwister lebendig zu halten. Zeitlebens wollte sie deren „Story“ in der Hand behalten, die Ausdeutung ihres Widerstands und das strahlende Bild von den beiden für sie wichtigsten Protagonisten der „Weißen Rose“. Manche Forschende nahmen ihr das übel, dass sie als Hüterin vieler schriftlicher Quellen lange zum Flaschenhals für ihre Arbeiten wurde und auf Exklusivrechte pochte. Historiker schätzte sie gering. Als das Interesse an dem Stoff in Film und Wissenschaft zunahm, endete ihr Monopol und rückte sie zugleich stärker in den Fokus.

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War ihr ihr Bestreben nach Deutungshoheit zu verübeln? War es nicht eher auszudeutendes Anzeichen der tiefen Verwundung, den der Verlust der geliebten Geschwister tief in die Seelen ihre Familie eingebrannt hat?

Lange Zeit war tatsächlich auch in dieser Angelegenheit „sanfte Gewalt“ nötig, um die Erinnerung an die beiden Ermordeten wachzuhalten. Die Mehrheitsgesellschaft der 1950er-Jahre pochte penetrant auf einen „Schlusspunkt“ bei der in Wirklichkeit noch kaum in Gang gekommen „Vergangenheitsbewältigung“. Inges Geschwister dienten den Verdrängern als Beleg, dass Widerstand eh zwecklos gewesen wäre, wenn nicht gar ein „Vaterlandsverrat“, welcher den Helden an der Front in den Rücken gefallen wäre. Als die „Klügeren“ sahen sie sich sowieso. Inmitten einer derart ablehnenden Umwelt standhaft geblieben zu sein, muss viel Kraft gekostet haben. Schon früh mündete ihre persönliche Sinnsuche in einer tiefen Religiosität und im Katholizismus, der ihr – der evangelisch Aufgewachsenen ­– als Kompass diente und zum nötigen persönlichen Halt verhalf.

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Der Durchbruch für die Erinnerungskultur, derer sich Deutschland heute überaus brüstet und die der aktuellen Neuen Rechten ein gehöriger Dorn im Auge ist, erfolgte erst später. Inge Aicher-Scholl, die vor 25 Jahren verstorben ist, hat viel zu dieser beigetragen. Ihr frühes Buch „Die Weiße Rose“ gab dem „besseren Deutschland“ ein Gesicht, das auf Täter und Mitläufer wiederum wie eine Provokation wirken konnte.
In den 1960er-Jahren* tritt Inge Aicher-Scholl erneut öffentlich in Erscheinung. Nun nutzt sie ihre Reputation, um der aufkommenden Friedensbewegung Gehör zu verschaffen. Als öffentliche Person blieb sie den Menschen, die heute um die 60 sind, hauptsächlich als Teilnehmerin der „Promi-Blockade“ in Mutlangen in Erinnerung.
● Christine Hikel hat 2012 im Oldenburg-Verlag ihre Dissertation „Sophies Schwester. Inge Scholl und die Weiße Rose“ veröffentlicht.
● Im selben Jahr erschien der Band „Die sanfte Gewalt. Erinnerungen an Inge Aicher-Scholl“, herausgegeben von ihrer Schwiegertochter Christine Abele-Aicher. Der Band enthält mitunter sehr subjektive, aber auch berichterstattende Erinnerungstexte von Familienangehörigen, Mitstreitern und Zeitzeugen, die in der Zusammenschau ein schlüssiges Gesamtbild der facettenreichen Persönlichkeit der Protagonistin ergeben. Erschienen bei der – nicht mehr existenten – Süddeutschen Verlagsgesellschaft, Ulm.
Thomas Vogel

Das Cover des Buches „Die sanfte Gewalt. Erinnerungen an Inge Aicher-Scholl.” Das Foto wurde von Rupert Leser im November 1983 bei der Feier zu Hans-Werner Richters 75. Geburtstag gemacht, die mit der „Gruppe 47“ in der Kleber-Post in Bad Saulgau abgehalten wurde.

Das Buch „Die sanfte Gewalt. Erinnerungen an Inge Aicher-Scholl” ist bei Patmos noch lieferbar. Es kostet 19,90 €. Man kann es auch bei der Herausgeberin Christine Abele-Aicher, Rotis 5/2, 88299 Leutkirch, beziehen – gerne mit Widmung der Herausgeberin. Ihr Erinnerungsbuch bezieht seinen Wert auch aus dem Umstand, dass sie einige Zeitzeugen noch befragen konnte, die heute nicht mehr unter uns sind.

*Anm. d. DBSZ-Red: 1964 begannen die Ostermärsche gegen Krieg in Ulm, prägend mitorganisiert von Inge Aicher-Scholl und ihrem Schwager Fritz Hartnagel (einer der letzten Offiziere, die aus Stalingrad ausgeflogen worden waren – Verlobter Sophie Scholls). Quelle: http://www.ingeaicherscholl.de/biografie-uebersicht-inge-aicher-scholl/ Der hier abrufbare Lebenslauf wurde von Julian Aicher zusammengestellt.

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