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Die Geschichte einer uralten Wallfahrt

Ratperonius und Rötsee – seit 1000 Jahren eine Symbiose



Foto: Stephan Wiltsche
Aus der Vogelperspektive ist der Rötsee – er ist seit langem auf dem Rückzug, vieles ist schon verlandet – noch erkennbar. Der Sage nach war die Einsiedelei des Ratperonius einst ringsum vom See umschlossen.

Rötsee – Ein Thüringer gründete vor 1000 Jahren auf einer Insel inmitten des Rötsees bei Kisslegg eine Kirche. Bernhard Müller, Chefredakteur des in Kißlegg erscheinenden Vatican-Magazins (einst Pur-Magazin, schildert die Geschichte eines deutschen Seligen und Erinnerungen an eine alte Wallfahrt.

Es war Anfang der 70er-Jahre. In den deutschen Universitätsstädten bebten noch die Nachwehen der 68er-Revolten. Wir acht- bis zwölfjährige Ministranten in unserem kleinen Allgäudorf Immenried wussten nichts von alledem. Wir lebten noch in einem ahnungslosen und unbeschwerten Zauber unseres Glaubens. So umschlich uns stets in der kirchlichen Bittwoche im Frühjahr ein erwartungsvolles Zittern. Es waren die Tage, in denen wir in die Felder und Fluren hinauszogen, um Gott mit Gebeten und Liedern zu danken und eine gute Ernte zu erbitten. „Was Gott tut, das ist wohlgetan …“, dröhnte es über das Land und der halbe Ort lief hinter dem Pfarrer und den Ministranten her, betend und staunend über die Schönheit der Schöpfung. Der Höhepunkt dieser Prozessionswoche war unser Fußmarsch zur gut vier Kilometer entfernten Wallfahrtskirche in Rötsee, die neben einem inzwischen mit Schilfgras fast zugewachsenen kleinen See gelegen, die letzten Überreste des seligen Ratperonius birgt.

Wir Buben freuten uns auf den langen Bittgang. Bammel hatten nur die Fahnenträger von uns, vor starkem Wind und Schwielen an den Händen. Doch wenn die Böen zu heftig wurden und die letzten Kräfte von den Ministranten abverlangten, griff meist ein mitbetender Bauer nach der zur schweren Last gewordenen Fahne, um sie uns ein Stück weit zu tragen. Und wir erkannten darin immer Simon von Cyrene, dessen Geschichte uns in den Andachten der Fastenzeit berichtet wurde. Dieser war einst Jesus zu Hilfe gekommen, um ihm das schwere Kreuz zu tragen.

Jung und Alt, wer irgendwie gehen konnte, zog mit nach Rötsee. Rosenkranzbetend durch die von Löwenzahnblüten gelbüberfluteten sanften Hügel trugen die Menschen ihre Sorgen und Bitten zum Grab des seligen Ratperonius. Und immer wenn die pilgernde Schar mit Kreuz und Fahnen den leichten Anstieg zur Kirche heraufkam, hatte der Wirt des gegenüberliegenden „Hirschen“ schon die weiß-gelbe katholische Flagge über einem Eingangsfenster seines Gasthauses wehen lassen. Schließlich war es auch ein großer Tag für ihn, machten die Beter nach der Heiligen Messe am Grab ihres Seligen doch Einkehr in seinem Haus, aßen heiße Würste, tranken Bier oder süßen Sprudel, bevor sie sich auf den Heimweg machten. Heute, wo es in der Wallfahrtskirche „Maria, Königin der Engel“, deren Geschichte bis ins 10. Jahrhundert zurückreicht, nur noch eine Maiandacht mit folkloristischer Musikbegleitung und ansonsten nicht einmal mehr eine Handvoll Wallfahrtsgottesdienste im Jahr gibt (und leider auch kein Wirtshaus mehr), haben sich die Zeiten in Rötsee in den letzten 50 Jahren stärker verändert, als in den 1000 zuvor. 

Und doch ist die Sehnsucht nach und die Ehrfurcht vor dem Heiligen irgendwie geblieben. Erst vor einigen Jahren wurde neben der Kirche ein inzwischen eingewachsener Labyrinthweg in den Grasboden gelegt als Zeichen unseres Lebenswegs. Daneben steht eine holzgeschnitzte Figur des Ratperonius.

Ratperonius, Ulrich und Berngarius

Der Selige von Rötsee stammte aus Thüringen. Nach der Überlieferung war er ein Adliger aus dem Geschlecht der Grafen von Rappenberg, nach denen heute ein Hügel bei Benneckenstein im Harz benannt ist. Als Ratperonius mit dem heiligen Ulrich von Augsburg bei einer Reise durch das Allgäu am „rothen See“ vom Schlaf überfallen wurde, deutete Bischof Ulrich dies als Zeichen, ihn anzuweisen, sich dort als Einsiedler niederzulassen. Von den adligen Landbesitzern wurde er aber zunächst abgewiesen und so drohte die Ansiedlung zu scheitern. Schließlich schenkte Berngarius de Arnac, wie eine Urkunde aus dem Jahr 941 bestätigt, dem Einsiedler einen öden Landstrich am Rötsee. In dieser Gegend hauste aber ein gefährlicher Räuber und trieb sein Unwesen und auch einige Anwohner meinten es nicht gut mit dem Einsiedler, der das Land urbar machte und eigenhändig eine Kapelle erbaute. Sie verwüsteten wiederholt das von ihm bestellte Land und zerstörten seine Gehölze.

Ratperonius, ein großer Beter, bat deshalb den Herrn, so berichtet es die Legende, dass er ihn, seine Kapelle und seine Felder mit Wasserströmen schützen und seine Pflanzung rings umgeben möge. Alsbald stieg das Wasser an. Laut Urkunden war der Rötsee tatsächlich früher viel ausgedehnter und umgab den ganzen Ort, so dass die Siedlung des Ratperonius auf einer Insel gelegen haben muss.

Heute ist der riesige See von einst zu einer Sumpfwiese geworden, die an das angrenzende Gründlenried übergeht, ein naturgeschütztes Hochmoor, das seltenen Pflanzen und Tieren als Refugium dient.

Bald nach dem Tod des Einsiedlers im Jahre 1034 entstand eine Wallfahrt

Es scheint zum Schicksal vieler Heiliger zu gehören: dass sie von Klerikern verleumdet und von der eigenen Kirche bestraft werden. So erging es auch Ratperonius. Bischof Warmann von Konstanz belegte ihn sogar mit Aufenthaltsverbot in Rötsee und erst dessen Nachfolger, Bischof Eberhard, rief in später wieder zurück. Um 1034 starb Ratperonius und er wurde in der von ihm erbauten Kapelle bestattet. Rötsee ging gemäß seinem letzten Willen an das Bistum Konstanz, das den Besitz später an das Kloster Petershausen verkaufte.

Bald wurde die Kapelle in Rötsee zum Ziel von Wallfahrern. Durch die gläubige Berührung des Leichnams im damals noch offenen Sarg erfuhren viele Menschen heilende Kräfte. Rötsee entwickelte sich zu einem regelrechten Wallfahrtsort. Später als der Leichnam nicht mehr offen sichtbar war, berührten die Pilger eine Steinplatte in der Kirche, auf der sich ein Fußabdruck des Ratperonius befand. Viele Fußkranke erfuhren dort Hilfe und Heilung.

Der Stein bei Rempertshofen

Einer Legende zufolge gibt es in der Nähe von Rempertshofen einen weiteren Fußabdruck des Ratperonius in einem Stein, auf dem der Einsiedler sich auf seiner Reise von Augsburg nach Rötsee ausgeruht haben soll. Daraus habe sich der Brauch entwickelt, den Fuß in den Abdruck zu setzen, um nicht zu ermüden oder Linderung von Leiden zu erfahren.

In einem anderen Waldstück, nahe Arnach, wird heute noch eine Quelle gepflegt, aus der einst Ratperonius sein Wasser geschöpft haben soll.

Aus der Werkstatt von Hans Multscher

Wer 2024 die Wallfahrtskirche von Rötsee besucht, gelangt nur bis in den Vorraum und kann das Innere der Kirche lediglich durch ein Gitter betrachten, es sei denn, er trifft jemanden in dem weniger als eine handvoll Wohnhäuser kleinen Ort an, der ihm das Gotteshaus aufschließt. Der heutige Bau entstand aus einer basilikalen Anlage. Wann die Kirche zu einer dreischiffigen romanischen Basilika ausgebaut wurde, wie die Fundamente zeigen, weiß niemand mehr genau. Der Chor wurde 1449 nach einem Brand neu errichtet. 1580 gab es größere bauliche Umgestaltungen und 1749 wurde die Kirche im barocken Stil umgebaut. Dabei wurden wohl die Seitenschiffe unter Vermauerung der Mittelschiffarkaden niedergerissen. Herausragend in der heutigen Ausstattung der Kirche ist das Gnadenbild von Rötsee, eine spätgotische Madonna aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, die aus der Werkstatt des berühmten Reichenhofener Bildhauers Hans Multscher (1400 – 1467) stammt. Hochaltar und Nebenaltäre wurden um 1750 von Johann Wilhelm Hegenauer überarbeitet. Ebenso die Kanzel.

Der Engel und der Schuldschein

Im Deckenfresko von Anton Wiedmann (1748) kommt die Vorstellungswelt des Barock zum Ausdruck, die zeigt, wie der Höllendrachen die Verdammten verschlingt. Darüber die christliche Frohbotschaft: Durch seinen Tod am Kreuz entreißt uns Jesus dem Rachen der Hölle. Ein Engel löscht mit blutgetränktem Schwamm den Schuldschein der Sünde.

Eine 1710 gegründete Bruderschaft förderte die Wallfahrt und die Marienverehrung in der seit dem 16. Jahrhundert „Maria, Königin der Engel“ geweihten Kirche.

Der Sarkophag von 1953

1953 wurde bei Grabungen im Mittelschiff der Kirche die Grablege des Ratperonius wiederentdeckt und ein Blechbehälter mit Totenschädel und Beinknochen. Nach einer gründlichen wissenschaftlichen Untersuchung der Technischen Hochschule Stuttgart, die positiv ausfiel, wurden die Gebeine des Seligen im Beisein des Bischofs von Rottenburg in einem Steinsarkophag (Bild: Martin Müller) neu beigesetzt. Er trägt die Inschrift „Hic iacet beatus Ratperonius o.p.n.“ (Hier ruht der Selige Ratperonius. Ora pro nobis – bitte für uns.)

Die Sonnenuhr von 1698

Bei der vorletzten Renovierung der Kirche 1994 wurde auch die Sonnenuhr (Bild: Bernhard Müller) an der äußeren rechten Seitenwand der Kirche aus dem Jahr 1698 wieder freigelegt. Sie erinnert uns wiederum an Ratperonius, für den die weltlichen Schätze, um deretwillen sich die Menschen schlagen und erschlagen, nur den Glanz des falschen Goldes tragen. Er ließ sich davon nicht blenden und erkannte, dass diese Schätze nicht wertvoller sind als morsches Holz und Veitstänze um die Narretei. Aus seinem zeitlosen Blickwinkel heraus vergeht und zerrinnt doch alles wieder in wenigen Augenblicken. Rötsees Sonnenuhr an der Grabeskirche des seligen Ratperonius weist uns hin auf die ewige Zeitlosigkeit unseres Schöpfers und die frühe Zeit des Christentums in unserer Heimat.
Bernhard Müller

Grab von Pfarrer Peter Mitscherlich an der Kirchenmauer. Der charismatische und predigtstarke Priester – ein Konvertit – machte Rötsee in den 1980er- und 1990-Jahren zu einem religiösen Anziehungspunkt. Foto: Bernhard Müller

Magnus besucht Ratperonius: Im Jahre 2016 wurde die Rötseer Kirche restauriert und zwecks Schädlingsbekämpfung begast. Die Kapellengemeinschaft Brugg (bei Arnach) durfte ihre wurmstichige Magnus-Figur im hermetisch abgeschlossenen Kircheninneren dazustellen. Unser Bild zeigt den Architekten Franz Kussauer mit der Brugger Figur am Sarkophag von Ratperonius. Wie der Selige von Rötsee hat auch der Allgäu-Heilige Magnus einen starken Regionalbezug und wird vielerorts in Oberschwaben und im Allgäu besonders verehrt. Foto: Gerhard Reischmann

Eine Votivtafel aus neuester Zeit, angebracht nach der Renovation 2016 – 2018. Foto: Martin Müller

Sternwallfahrt 2023: Wie heuer – am 12. Mai 2024 – hat es im Mai 2023 eine Sternwallfahrt aus den umliegenden Pfarrorten nach Rötsee gegeben. Unser Bild zeigt im Vordergrund die Arnacher Gruppe unter Führung von Pfarrer Patrick Meschenmoser (verdeckt). Foto: Stephan Wiltsche




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