Danke, Siggi
Am Abend des 19. Oktober starb Siegfried Scharpf. Er war erst 67. Sein Tod: völlig unerwartet. Der Vater von zehn Kindern diente sowohl als Bezirks-Schornsteinfegermeister als auch über Jahrzehnte der Kommunalpolitik. Der Ravensburger Kreisrat stammte aus Bad Wurzach. Er hinterlässt eine große Lücke. Julian Aicher, Redaktionsmitglied der Bildschirmzeitung „Der Leutkircher“ und Wasserkraft-Aktivist von der Rotis-Mühle bei Leutkirch, gehört dem Kreistag von Ravensburg seit 2014 an. Er fühlt sich durch den öpd-Fraktionsvorsitzenden Scharpf stark geprägt. Hier Aichers sehr persönlicher Dank an Siegfried Scharpf:
11. Juli 2023. Ein heftiger Sturm fegt über das schwäbische Oberland. Bäume, teils seit über 100 Jahren aufgewachsen, fallen um. Einige von ihnen einzeln im Wald. Siegfried Scharpfs Tod letzten Donnerstagabend wirkt wie solch ein Sturz eines Baum-Riesen.
Seelenverwandt mit dem „Schwarzen Veri”
Frühjahr 2014. Zum ersten Mal darf ich – frisch gewählt – an einer ödp-Fraktionssitzung teilnehmen. Im Garten von Kreisrat Max Scharpf, dem Sohn von Siegfried Scharpf in Vogt. Ohne Parteibuch. Die ödp = Ökologisch demokratische Partei, ist bundesweit bekannt, seitdem die Kleinpartei per Volkentscheid in Bayern das Rauchverbot in Gasthäusern durchgesetzt hat. Umso erstaunlicher: Siegfried Scharpf, der Fraktionsvorsitzende der ödp im Kreistag von Ravensburg, begrüßt mich mit musternden Blicken und: mit einer Zigarette in der Hand. „Du bischt jetzt also v‘rwandt mit dera Scholl“, sagt er zu mir. „Ja, meine Tante war Sofie Scholl“, antworte ich. Darauf der Ravensburger Siegfried Scharf: „Ond i be v‘rwandt mit em Schwaaze Veri” – also mit dem in der Gegend bekannten Räuberhauptmann aus Napoleons Zeiten. Mit Räuber-Treffpunkt unter anderem im Wald-Wirtshaus Weißenbronnen bei Wolfegg.
Später spreche ich Siggi darauf an; ein „Zigeunerforscher“ habe mir über die damaligen vermeintlichen Robin Hoods des Oberlands erzählt, viele von ihnen seien Sinti und Roma gewesen. „Jo, siesch des it?“, meint Siggi Scharpf. Sein (Siggis) wellig gegelt wirkendes Haar deute doch klar darauf hin. Diese natürliche Staatsferne trug wohl auch Siggi in seinem Blut. Als während der Corona-Maßnahmen ein Kreisrat in der Sitzung dazu aufrief, „dass wir jetzt alle ein Zeichen setzen und uns impfen lassen“, zwinkerte mir Siggi zu mit der Frage: „Gomm‘r oine raucha?“ Als Nichtraucher bergleitete ich ihn bei solchen Gelegenheiten gerne nach draußen an die frische Luft. Denn dort führten nicht nur diejenigen mit Zigarette in der Hand interessante Hintergrund-Gespräche. „Gell – wie 30“, fragte mich Siggi nach dem Impf-Aufruf im Sitzungsaal. Ich sagte, das könne ich so genau nicht wissen, da ich 1930 oder gar 1933 noch nicht auf dieser Welt lebte. Aber so ähnlich würde ich mir das schon vorstellen. Dazu rät mir Siggi Scharpf mit ruhiger Stimme fast väterlich: „Du brauchscht bloß amol ibrlega, wer von dene do dinna beim Staat sei Geld v’rdient.“
Als Handwerker und Bezirksmeister zeigte Siegfried Scharpf starke Bodenhaftung. Weniger Abhängigkeit von Segnungen der Staatskasse. Als Bezirks-Kaminfegermeister guckt er den Leuten von oben ins Haus. Da reden sie gerne Klartext. Volkes Stimme. Ihre Meinung gab Scharpf gelegentlich direkt im Kreistag wieder. Und zwar stets auf Schwäbisch, so wie sich das zwischen Donau und Bodensee für einen gestandenen Handwerksmeister gehört. Und als zehnfacher Familienvater aus der Region.
Der Scharpf’sche Familiensinn
Mehrere seiner Söhne sorgen ebenfalls für gefegte Schornsteine. Der Scharpf’sche Familiensinn wirkt bis in den Kreistag. So ließ sich auch Sohn Max Scharpf dorthin wählen. Auch er mit klaren Ansagen. Ebenfalls kurz und schwäbisch vorgetragen. Und kaum zu beirren. Auch auf Kundgebungen für die Einhaltung der Grundrechte unter freiem Himmel ab 2020 begegne ich ihm (Max). Die Scharpfs – eine Familie mit Familiensinn. So zumindest erkennbar an einem Film, den das Südwestrundfunk-Fernsehen in seiner Reihe über kinderreiche Familien veröffentlichte. Dort war etwa zu erfahren: Als einer der Scharpf-Söhne durch Unfall zeitweise arbeitsunfähig war, sprang Papa Siggi ein. Er kannte ja den Beruf. Ein Rentner, der weitermacht, wenn’s „braucht“. Nachdem meine Frau Christine den Film gesehen hatte, fragte sie: „Kann man da (in der Familie Scharpf) einen Mitgliedsantrag stellen?”
Siggi Scharpfs große Sippe. Da gehört viel praktische Kenntnis dazu. Nach einem Herz-Ultraschall im Krankenhaus am 3. und 4. Oktober 2019 erfahre ich: „Sie haben ein großes Herz, ein zu großes.“ Allerdings nur dessen Hälfte. Bald soll eine Kathederuntersuchung weiteres klären. Dann im Frühjahr 2020 Corona. Ich rufe im Krankenhaus an und sage, meine Untersuchung könne warten – solange die Betten für Pandemie-Patienten gebraucht würden. Davon erzähle ich Siggi. Und auch davon, dass mir nach einem Interview beim damaligen Kanal „KenFM“ jemand geraten habe, mich keiner Katheder-Behandlung auszusetzen und mich stattdessen einstweilen schon mal einem Naturpräparat anzuvertrauen. „Dia Tropfa krieg’sch von meiner Frau“, versichert mit Siggi Scharpf. Kurz danach sitze ich im Besprechungszimmer der so ruhig wie äußerst klug und herzlich wirkenden Ravensburger Natur-Hausärztin Irene Scharpf.
Dieser so kundigen wie mutigen Frau gilt jetzt – nach dem Tod Siggis – mein Mitgefühl ganz besonders. Ihr Mann, der Vegetarier: gesundheitsfreudig als Jogger. Im Wald erholte er sich auch an den vielen Geschöpfen um ihn rum. Von Bäumen, Vögeln und selbst dem fürs Gehirn offenbar heilsamen Grün. Auf raschen Sohlen dort empfand der betont gläubige Christ „heilige Momente“.
Siggi Scharpf war für mich viel mehr als ein Familienvater und ein zupackender Handwerker. Von ihm lernte ich mehr über Kommunalpolitik als in den Semestern am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen. Scharpf war, wenn’s sein musste, ein Fuchs. Nicht obwohl, sondern weil wir in der ödp-Fraktion dagegen waren, zehn Millionen Euro für die Planung – in Worten: Planung – der Ortsumfahrt Gaisbeuren zu versenken, stimmten wir für – ich wiederhole – für diesen Antrag der CDU, das Geld für diesen Zweck auszugeben. Warum? Siggi Scharpf erklärte uns, die Stadt Bad Waldsee müsste bei diesem Beschluss ebenfalls Hunderttausende ausgeben. Und genau dies würden die Waldseer Ratsmitglieder ablehnen.
Und so kam es. Die Geldverschwendung war damit abgewehrt.
„Nein“ auch von der ödp zu einer „Studie“ über die OSK-Krankenhäuser für Hunderttausende. Wenn ohnehin schon beschlossen sei, Bad Waldsee dichtzumachen, brauche das nicht noch mit teuren „Gutachten“ begründet zu werden. Stattdessen hatte Siggi Scharpf schon mehr als ein Jahr vor der spät vollzogenen Entlassung die Trennung von OSK-Geschäftsführer Professor Adolph gefordert. Ein klares Nein dann auch von Max Scharpf und Papa Siegfried Scharpf samt Dr. Wolfgang Schmidt und mir zur Schließung des OSK-Krankenhauses Bad Waldsee. Siegfried Scharpf hatte sich vorher „hundert Stunden“ an Informations-Veranstaltungen beteiligt. Als Mann einer kundigen Ärztin kannte er sich da bestens aus.
Schwäbisch sparsame Bescheidenheit. Siggi Scharpf erschien meist in einem Kleinwagen zu den Kreistagssitzungen. Obwohl anfangs erklärter Gegner von Elektroautos, stieg er eines Tages selbst aus solch einem Vehikel aus. Lernfähig. Und offen.
Sein letzter großer Appell im Kreistag galt der Flüchtlingsfrage. Klar, es sei schwierig, sie alle jetzt unterzubringen. Aber: „In zehn Jahren sind wir froh, wenn dann Leute da sind, die schaffen können.” Mit ein Grund dafür, dass Siggi Scharpf vorschlug, Flüchtlinge mehr oder minder gleich nach ihrer Ankunft in Deutschland an Arbeitsstellen zu bringen. Eine Idee, die Kreisrat Rolf Engler (CDU) im Rahmen der folgenden Kreistagssitzung, 19. Oktober 2023, aufgriff. Da lag Siggi Scharpf schon auf dem Sterbebett.
Siggi – ich bin immer noch fassungslos, dass Du uns hier auf der Erde schon verlassen hast. Aber ich bin auch sicher: Dein Wirken zeigt sich lange über Deinen Tod hinaus. Danke, Siggi!