Ravensburg – Zwei sehr gegensätzliche, aber sich auch ergänzende Ausstellungen im Kunstmuseum Ravensburg: Alberto Giacometti und die COBRA Künstlergruppe. Betrachtungen.
„Die Kunst interessiert mich sehr, doch die Wahrheit interessiert mich unendlich mehr“, wird der Schweizer Künstler Alberto Giacometti (1901 – 1966) in dem hervorragenden Begleitheft zitiert. Auch der Begriff „Wirklichkeit“ spielt für Giacometti eine entscheidende Rolle in seiner Kunst, um sich „besser darüber klar zu werden, was ich sehe.“
Was hat er gesucht, was hat er gesehen? In den selten zu sehenden Zeichnungen, Grafiken, in der Malerei und den Skulpturen aus der Privat-sammlung des ehemaligen Galeristen Helmut Klewan, die er dem Kunstmuseum ausgeliehen hat, erfährt man nicht, welche Wirklichkeiten Alberto Giacometti interessiert, abgestoßen oder inspiriert haben. Doch man sieht, was er gesucht hat – den von allem Materiellen entkleideten oder kann man sagen, befreiten Menschen. Nichts, was ihm Status verliehe, gesellschaftliche Accessoires, Kleidung und Verkleidung haftet seinen Menschen an. Giacomettis Skulpturen und Figurinen haben etwas Substantielles, sie sind fragil, wie reduziert auf eine existentielle Wesen- haftigkei, zeitlos. Da verhuscht eine Figur auf einem riesigen, weißen Blatt in Andeutungen eines Körpers – Augen, eine Schulter, ein Bein. Was bleibt vom Menschen? Spuren. Seine Frauenakte scheinen wie befreit von Lust, von Begierden. Sie wirken wie in sich ruhende Kompositionen. Da entsteht eine Einheit des Menschen mit dem Raum. Er ist Teil. Der Mensch in diesen Bildern dominiert seinen ihn umgebenden Raum nicht, ermächtigt sich nicht seiner. Wie, beispielsweise, im Kolonialismus, in der Industrialisierung.
Giacomettis Skulpturen und Figurinen entbehren jeder Dominanz. Und so erscheint es stringent, dass er in seinen Schaffensphasen von den 50er Jahren bis zu seinem Tod 1966 in winzigen Skulpturen, in sehr vielen Zeichnungen der Sammlung Kleman „den Menschen“ reduziert auf Köpfe, auf durchdringende Blicke, einen Mund, eine Stirn. Stundenlang mussten seine Modelle stillsitzen, ihn anblicken. Manche seiner Gesichter lassen einen kaum los. In ihrer Offenheit, ihrer Herausforderung. Zu was? Zum Dialog, zum Widerspruch, zur Wahrnehmung, dass es so viele „Menschlichkeiten“ gibt? Auch dies macht diese Ausstellung gesellschaft-lich so brisant. Wo immer mehr Menschen die anderen nicht mehr wahrnehmen, die am Rand der Gesellschaft eh nicht. Home office und selbst draußen in der Wirklichkeit kommunizieren mehr Menschen mit dem Smartphone, dem Tablet statt mit Menschen. Wahrheit und Wirklichkeit, zwei zentrale Begriffe in Giacomettis Schaffen. Was sind sie heute, 58 Jahre nach seinem Tod? Eine ganz persönliche Begegnung mit Alberto Giacometti sei noch erwähnt. Ich wusste, dass er auch inspiriert war von afrikanischer Kunst, afrikanischen Skulpturen. Zu Hause fand ich in meiner afrikanischen Kunst eine kleine Skulptur aus Ghana, die doch verblüffende Ähnlichkeiten zu seinen hat.
Ein faszinierender Gegensatz zur Giacometti-Ausstellung, die sich wundervoll ergänzt, ist die Sammlung COBRA im dritten Geschoss. Vor Energie berstende Figuren und Köpfe, wütend, aggressiv, wild, von der Freiheit erfüllt, radikal Neues schaffen zu wollen und zu können, was alle Normen, Etiketten und Grenzen sprengen würde. Eine massive Fülle an neuem Leben, zu Beginn in Copenhagen, Brüssel und Amsterdam (daher der Name CoBrA), bald in Deutschland, in halb Europa. Eine internationale Bewegung, 1948 – 1951, nach dem Nationalismus, dem Wahnsinn des Faschismus, der verbrannten Kultur, der verbrannten Menschen. Eine internationale Gruppe von Künstlern schloss sich zusammen, mit dem Traum von einem anderen Leben, mit Ideen von einer Kunst, die sich entfalten sollte außerhalb des grauenvoll missbrauch-ten bürgerlichen Kulturkanons. Auch Giacometti hatte zur COBRA Bewegung eine kurze Beziehung. Der Titel dieser ebenfalls faszinierenden Ausstellung fasst die Aufbrüche, die Visionen sehr treffend zusammen: COBRA, Traum, Spiel, Realität.
Beide Ausstellungen laufen bis 23. Juni, Dienstag bis Sonntag, Burgstr. 9, 88212 Ravensburg.
Infos unter: www.kunstmuseum-ravensburg.de
Autor: Wolfram Frommlet