Ravensburg – Wer reist, braucht einen Koffer. Was aber mitnehmen in die neue Welt, die eine alte ist? Wolfram Frommlet hat sich für Musik und Bücher entschieden. Es ist das Eigene, das ihm viel bedeutet, was er in die Fremde mitnimmt. Das Fremde ist Afrika, von Ost nach West. Lusaka, Hauptstadt von Sambia, dorthin bricht der Ravensburger 1978 mit schwangerer Frau auf ohne Rückflugticket. Es ist der Beginn einer langen Reise, die eine Suche ist. Im Koffer Johann Sebastian Bach, dessen Musik dem Globetrotter Heimat gibt.
Jetzt hat Wolfram Frommlet, kurz vor seinem 80. Geburtstag, sein Leben zwischen Eigenem und Fremdem in einem Buch zusammengefasst. „Johann Sebastian Bach geht über den Sambesi“ umschreibt den persönlichen Teil des Buches; der Untertitel „Reisen in die Schatten Europas“ ist mit Blick auf die vergangenen 60 Jahre die kritische Bilanz über das Erbe des Kolonialismus, wozu die so genannte Entwicklungshilfe ebenso zählt wie der Neokolonialismus in Form eines kapitalistischen Wirtschaftssystems, das Ausbeutung fortsetzt und nur entwickelt, was Profit verspricht. Die Folge ist Abhängigkeit und Korruption, und das im Wettrennen um Einflusssphären mit russischen Söldnern und chinesischem Kapital inklusive Baubrigaden.
Frommlet spannt den großen Bogen vom Eigenen zum Fremden, wobei ihm das Eigene auch fremd wird, je mehr er sich der (eigenen) Geschichte nähert. Wolfram Frommlet kommt kurz vor Kriegsende in Ravensburg zur Welt, ein Ort, der von Bomben verschont bleibt, wohin die Mutter, nur fort von Ulm, flüchtete. Der Krieg endete, die Familie blieb, wo das Einzelkind wohlbehütet auch von Oma und Opa aufwächst und mit viel bürgerlicher Kultur ausgestattet, aber auch mit viel schulisch gewolltem Unwissen über das Grauenhafte, auf eine Welt stößt, in der das Morden millionenfach und industriell geschah und viele der Täter und Helfer unbehelligt blieben und schon wieder das Sagen hatten. Der junge Frommlet erlebte den Aufschrei über den Zivilisationsbruch beim Studium in Tübingen und München, die 68er prägten den Studenten des Schöngeistigen (Kulturwissenschaften und Gesang) nachhaltig. Als Regisseur und Dramaturg lernte er das Theater in München und Kassel kennen, aber nicht die Oper wurde dem in klassischem Gesang Ausgebildeten zur Bühne, sondern das Radio war fürderhin sein Medium, nicht als Sänger sondern als Journalist, der einen Auftrag hatte. Und den sah er nach ersten gelungenen Gehversuchen beim WDR in seinem Engagement als Radiomacher in Afrika, genauer in Sambia, genauer in der Hauptstadt Lusaka. Dorthin reiste er 1978 mit schwangerer Frau im Auftrag der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung: Um was zu tun?
Diese Frage beschäftigt den 80-Jährigen immer noch. Sie ist Antrieb für sein Schreiben, das den Versuch darstellt, auf 350 Seiten zu klären, warum er gelebt hat, wie er gelebt hat im Zeitenwandel, abhängig und unabhängig, aber immer mit dem Risiko: „Ich wage zu scheitern.“
Das Buch handelt von Politik, im Besonderen von Entwicklungspolitik, und von Geschichte, im Besonderen vom Kolonialismus, und von Journalismus, im Besonderen vom Radio, und es handelt von Wolfram Frommlet, im Besonderen als intimer Zeitzeuge, der die Sinnfrage stellt.
Und weil ich selbst zu sehr ins Grübeln gerate – als Betroffener, der nur ein Jahr später als Frommlet 1979 als 21-jähriger Forstwirt und „Entwicklungshelfer“ in einem Aufforstungsprojekt in Obervolta, heute Burkina Faso, in Westafrika, tief „im Busch“ mitarbeitete, fernab von oberschwäbischem Komfort, aber dennoch privilegiert – ziehe ich den Verlag zu Rate, um kurz zusammenzufassen, was Wolfram Frommlet in Sambia und in den folgenden 30 Jahren in weiteren afrikanischen Ländern als Auftrag hatte. Es ging ganz modern um Teilhabe, um demokratische Repräsentanz, die im Rahmen von Medienprojekten im Radio denen eine Stimme geben sollte, die keine haben: Frauen, der ländlichen Bevölkerung, den Armen sowie dem Reichtum afrikanischer Kulturen ein Forum zu verschaffen. Das war das Ansinnen.
An dem Frommlet meist scheiterte, wie er einräumt. Nicht weil er es nicht konnte oder wollte, sondern ganz profan, weil kein politisches Interesse bestand, die Stimmen von unten zu hören und erst recht nicht, Demokratie zuzulassen. Das widerspricht zwar dem Begehren der Bevölkerung, wie Frommlet feststellt, aber die Eliten kümmert es nicht. Demokratie ist allenfalls das Mäntelchen, unter dem Korruption und Raubbau grassieren. Für den Autor sind es „die Schatten Europas“, das Erbe des Kolonialismus, in dem sich die afrikanischen Gesellschaften auch 60 Jahre nach der Unabhängigkeit immer noch befinden, abhängig von eigenen korrupten Eliten und dem korrumpierenden Wirtschaftssystem (jedweder Couleur). Chinas massives Auftreten wendet nichts zum Besseren. Und die russischen Söldner wirken wie eine kolonialistische Persiflage. Nicht geistreich, sondern brutal.
Wolfram Frommlet erzählt eine persönliche Zeitgeschichte mit profundem und detaillreichem Wissen, das er episodenhaft und damit kurzweilig gliedert. Seine Sinnsuche mutet den LeserInnen einiges zu. Zu dem auch das Fazit beiträgt, dass in dem erlebten Zeitraum von 46 Jahren die Verhältnisse sich noch „einmal dramatisch verschlechtert (haben) – vor allem in den afrikanischen Ländern“. Was das bedeutet, ist ebenfalls eine Zumutung. Aber lesen tut gut.
Wolfram Frommlet: „Johann Sebastian Bach geht über den Sambesi. Reisen in die Schatten Europas“. Kröner Verlag, Stuttgart 2024. 350 Seiten, 28 Euro.
Autor: Roland Reck