Bad Saulgau – Eine kleine Stadt sucht den Anschluss an die Welt. Mit der städtischen Galerie „Fähre“ nahm die kleine Stadt Saulgau bald nach dem Krieg Kurs auf die Welt der großen Kunst. 77 Jahre ist das jetzt her. Die Fähre feiert die „Schnapszahl“ ihres Bestehens mit einer Jubiläums-Ausstellung. Eine weitere Schnapszahl spielt für diese Ausstellung eine Rolle. Seit 33 Jahren ist der städtische Kulturamts- und damit Galerieleiter, Andreas Ruess, der kreative Kopf der Fähre. Am 1. September wird er offiziell seinen Schreibtisch im Rathaus räumen und die passive Phase der Altersteilzeit antreten.
Warum die Schnapszahl und keine Ausstellung zum 75-jährigen Bestehen? Unmittelbar nach Corona und bei schwindenden Besucherzahlen habe er auf eine Ausstellung zum geraden Jubiläum verzichtet, sagt Andreas Ruess. „Aber 77 ist ja irgendwie auch ein Jubiläum.“
Es war nicht der besondere Kunstsinn der Saulgauer, der im Jahr 1947 zur Gründung der ersten städtischen Galerie in Oberschwaben nach dem Krieg geführt hat. Vielmehr betätigte sich der Gouverneur der französischen Besatzungsmacht als Geburtshelfer. Coup de Fréjac hatte die Vertreter der Stadt früh davon überzeugt, das 1947 von den Franzosen gegründete „Centre d’Information“ in kommunaler Trägerschaft zu übernehmen. Die in Kreisstädten gegründeten Centres sollten mittels Kunst und Kultur einen Beitrag zur Réeducation der deutschen Bevölkerung und damit zur Aussöhnung der einstigen Kriegsgegner leisten. Während der kunstsinnige damalige Landrat Karl Anton Maier von dem Projekt der Kommunalisierung nicht überzeugt werden musste und es förderte, brauchte es im Saulgauer Gemeinderat die Überzeugungsarbeit und den Druck der Franzosen, um sich dieser Aufgabe anzunehmen. In der wirtschaftlich schwierigen Situation nach dem Krieg mit vielen Flüchtlingen gab es aus Sicht der Saulgauer Wichtigeres als die Pflege von Kunst und Kultur.
Die Entscheidung wider Willen zahlte sich aber aus. Während alle anderen Centres aufgelöst wurden, entwickelte sich die Saulgauer Einrichtung unter einem symbolträchtigen und in die Zukunft gerichteten Namen fort und wurde zur Keimzelle weiterer kultureller Angebote wie fest etablierten Theateraufführungen und Konzerten. De Gaulle persönlich soll es gewesen sein, der Coup de Fréjac während eines Rapports in Paris den Rat gegeben haben soll, statt des ursprünglich infrage kommenden Namens „Brücke“ die „Fähre“ zu wählen, um das Verbindende der neuen Einrichtung zu betonen. Der Krieg habe gezeigt, dass Brücken anfällig seien, während eine Fähre selbst unter schwierigen Bedingungen manövrierfähig bleibe, wird eine Aussage von Coup des Fréjac im Ausstellungskatalog wiedergegeben, die dieser während seines Besuchs aus Anlass aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der Fähre gemacht hatte.
Bald wurde über Ausstellungen der Fähre auch überregional berichtet, wobei die große Kunst im kleinen Städtchen die Kommentatoren immer wieder überraschte. Mutig setzte sich die Fähre früh mit moderner Kunst auseinander, pflegte auch die regionale Kunst. Die Avantgarde der regionalen Künstler war oftmals von den Nationalsozialisten mit Ausstellungsverboten belegt worden. In der Fähre fand diese „verschollene Generation“ erstmal wieder Ausstellungsmöglichkeiten und öffentliche Würdigung. Mit Ankäufen von Kunstwerken sicherte die städtische Galerie zudem einen Teil der materiellen Grundlagen für ihr Schaffen. Die dadurch entstandene Sammlung ist Grundlage der aktuellen Ausstellung.
Das Konzept der Ausstellung umgeht geschickt eine Wiederauflage der Ausstellung aus Anlass des 50-jährigen Bestehens. Die von Ruess‘ Vorgänger Bruno Effinger geprägte Epoche findet im Kreuzgang des Klosters ihre Würdigung. Werke unter anderen von Jakob Bräckle, Wilhelm Geyer, Emil Kiess, Paul Unseld oder Gottfried Graf sind hier zu sehen.
In den nun folgenden Räumen findet die Ära von Andreas Ruess ihren Widerhall. Sie war von anderen kulturellen, räumlichen und politischen Voraussetzungen beeinflusst, musste in einer veränderten und vergrößerten Galerielandschaft in Oberschwaben bestehen. Der Umzug von in das umgebaute frühere Franziskanerkloster im Jahr 2010 bedeutete eine Zäsur: Es gab einerseits neue Möglichkeiten Ausstellungen musikalisch und darstellerisch zu bespielen, die größere Zahl an Räumen verlangte andererseits nach einer größeren Anzahl von Werken, um sie auszustatten. Ruess löste die Anforderung mit mehr Ausstellungen mit mehreren Künstlern. „Ich habe immer nach einem thematischen Faden gesucht, um Werke und Künstler zu verbinden“, sagt Andreas Ruess. „Die Künstlerschmiede LOS“ zeigte Werke der aus dem früheren Aufbaugymnasium hervorgegangenen Künstler. „Künstler der fünf Donaustädte“, „ArtGenossen, das Tier und wir“ oder „Gestrandet in Oberschwaben“ waren solche thematischen Ausstellungen. Einzelausstellungen wie die mit dem aus Altshausen stammenden Gerold Miller, Gerhard Langefeld oder dem aus Bad Saulgau stammenden Michael Luther gab es aber weiterhin. Die Prominenten-Fotografin Herlinde Koelbl war mit einer gut besuchten Ausstellung zu Gast in der Fähre, ebenso der Biberacher Fotograf Andreas Reiner. Die Galerie öffnete sich verstärkt dem Abstrakten, weniger Figürlichen, neuen Darstellungsformen, ab und zu auch augenzwinkernd dem Humoresken. Ohne den hohen Anspruch aufzugeben, wurden Grenzen durchlässiger. Wie in einem kleinen Kabinett gibt die Ausstellung in einem Nebenraum der großen Ausstellungsräume Raum für Lokalkolorit, in dem sich selbst Ruess‘ Vorgänger Bruno Effinger wiederfindet.
Trotz unterschiedlicher künstlerischer Duftmarken der beiden prägenden Galerieleiter von 77 Jahren Fähre: Eines ist auch unter Ruess geblieben. Der Galerieleiter persönlich greift zur Bohrmaschine und entscheidet mit Hausmeister-Unterstützung vor Ort selbst, wo Bilder hängen. Zum einen wollten weder Andreas Ruess noch Bruno Effinger solche Entscheidungen aus der Hand geben, zum anderen zwingt das begrenzte Budget für Kunst und Kultur in der kleinen Stadt auch mal zum hemdsärmeligen Einsatz des Galerieleiters. Ruess drückt das so aus: „Ich backe kleine Brötchen, aber es sind meine Brötchen.“
Info: „77 Jahre Fähre – Anschluss an die Welt“, geöffnet Dienstag bis Sonntag, 14 bis 17 Uhr in der Städtischen Galerie Die Fähre in Bad Saulgau. https://kunstverein-badsaulgau.de/galerie-faehre/
Anwalt der Kultur
Bad Saulgau – Nach 33 Jahren in den Diensten der Stadt beginnt für den Bad Saulgauer Kulturamtsleiter Andreas Ruess (63) am 1. September 2024 die passive Phase der Altersteilzeit. Am 1. Oktober wird Nachfolgerin Alexandra Karabelas die Verantwortung für die Kultur in Bad Saulgau übernehmen.
Über drei Jahrzehnte war Andreas Ruess Organisator, Ansprechpartner und Prellbock bei Problemen bei kulturellen Veranstaltungen aller Art in Bad Saulgau. Die Ausstellungen in der Fähre gehörten genauso in seinen Aufgabenbereich wie das Bad Saulgauer Theaterprogramm oder die Organisation und Koordination von Konzerten. Seine Schlagzahl war und ist beträchtlich. Fast sechs Ausstellungen und acht Theateraufführungen pro Jahr gab es zu organisieren, dazu Konzerte und die Unterstützung bei Musikfestivals.
Erleichterung, wenn diese Arbeit von einem abfällt? Von einem zwiespältigen Gefühl spricht der noch amtierende Bad Sauglauer Kulturamtschef, wenn er an seinen nahen Abschied denkt. „Ich bin einerseits froh, dass ich die Verantwortung in einer Zeit abgeben kann, in der man immer mehr um sein Publikum kämpfen muss.“ Aber: „Es wird mir fehlen, meine Vorstellungen von Kunst umsetzen zu können“, so Ruess. Dazu gehöre der Kontakt zu Künstlern, Musikern und Schauspielern. Als positives Signal in schwieriger Zeit für die Kultur wertet er es, dass für seine Stelle mit Alexandra Karabelas eine Nachfolgerin eingestellt wurde. Um in der Überfülle der Veranstaltungen zu bestehen, müssten bei der Werbung verstärkt neue Wege beschritten werden. Und seine designierte Nachfolgerin habe qua ihres Alters einen besseren Zugang zu den sozialen Medien.
Dankbar ist Andreas Ruess für das große Vertrauen, das Gemeinderat und Verwaltung in seine Arbeit hatten und den großen Spielraum, den die Gremien ihm bei seiner Arbeit ließen. „Ich habe dafür versucht, die Zahlen einigermaßen einzuhalten“, so Ruess. Während seine Nachfolgerin sich zu 100 Prozent Kultur und Kunst in Bad Saulgau widmen kann, war Andreas Ruess zu 35 Prozent noch für Schulen zuständig. Eine Aufgabe, die er innerhalb der festen Strukturen der Schulpolitik nur schwer stemmen konnte. „Ich wäre gerne Anwalt der Schulen gewesen, wie ich es bei der Kultur war“, sagt er zum Abschied. Er bedauert, dass er das unter den gegebenen Umständen nicht bewältigen konnte. Für die Fähre bleibt Ruess zumindest in diesem Jahr noch im Amt. Er wird die beiden noch für 2024 geplanten Ausstellungen „Willi Siber 75“ und „Die Kösels – eine Sigmaringer Künstlerfamilie“ betreuen.
Seine Nachfolgerin Alexandra Karabelas (51) ist in Friedrichshafen geboren, hat Deutsche Literatur- und Politikwissenschaft studiert in Tübingen und Genf sowie Tanzwissenschaft in Bern. Beim Stuttgarter Ballett, dem Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg, dem Theater Pforzheim, der Kunsthalle Mannheim und der Staatsgalerie Stuttgart war sie bislang als Dramaturgin und als Programmmacherin engagiert.
Autor: Rudi Multer