Biberach – Die traditionsreiche Textilfirma Gerster, einst Hersteller repräsentativer Accessoires großbürgerlicher Wohnkultur, produziert nicht nur Gardinen und technische Textilien. Sie setzt auch auf Fasern aus Flachs. Diese Faserverbundbauteile helfen Autobauern nachhaltiger zu werden. Es zeigt: Wirtschaft im Wandel – mit der Historie in die Zukunft.
In einem Besprechungszimmer der Villa mit ihren dunklen Jugendstiltüren in der Memminger Straße, wo die Firma seit 1914 ansässig ist und die alten Firmengebäude stilvoll aus der Zeit gefallen scheinen, hängt eine Fotocollage des vom Verpackungskünstler Christo verhüllten Arc de Triomphe in Paris – geschmückt mit zwei riesigen Posamenten. Auf die Frage, ob der Stoff des temporären Kunstwerks von der Firma Gerster stammt, lacht Philipp Gerster: „Nein, leider nicht. Das war nur der Spaß einer Kundin.“ Was Posamenten sind, weiß heute kaum noch jemand. Diese schmückenden Kordeln, Litzen, Quasten waren im 19. Jahrhundert en vogue, es gab sogar den Beruf des Posamentiers.
1882 von Gustav Gerster gegründet, wurde die Fabrik bald zum größten Posamentenwerk in Deutschland. Mein Gesprächspartner, Geschäftsführer Philipp Gerster, der erste aus der fünften Generation des Familienbetriebs, ist Wirtschaftsingenieur (Schwerpunkt Maschinenbau und Leichtbau). Der 31-Jährige erklärt, dass heute der Handel mit Gardinen- und Vorhangstoffen den größten Teil des Geschäfts ausmacht. Tatsächlich würden auch noch Posamenten produziert, „unser Traditionsgeschäft“ hauptsächlich für den ausländischen Markt, „wo’s etwas pompöser sein darf“, insbesondere in die USA. Schon in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts begann die Firma mit der Produktion von Gardinenbändern. Von ihnen werden heute jährlich 40 Millionen Meter hergestellt. Mitte der 80er Jahre wurde die Gardinenproduktion und der Großhandel mit Stoffen aufgenommen. „Das ist heute unser Brot- und Butter-Geschäft“, erläutert Gerster.
2004 wurde unter dem Namen Gerster TechTex ein neuer Geschäftszweig gegründet, der mittlerweile rund zehn Prozent des Geschäfts ausmacht. 230 Mitarbeitende arbeiten in Biberach und seit 1995 im Tochterwerk in Polen, in dem allerdings nicht produziert, sondern vor allem kommissioniert wird. „Wir sind ein mittelständischer Familienbetrieb mit vielen Mitarbeitenden, die bei uns bereits die Ausbildung absolvierten. 70 Prozent sind Frauen, viele davon in Teilzeit.“
Nachhaltigkeit ist in allen Branchen ein wichtiges Thema, und so kommt es, dass in Biberach, früher ein Zentrum der Flachsverarbeitung, wieder mit Flachs gearbeitet wird. Der Flachs stammt allerdings nicht aus Oberschwaben, sondern aus Nordfrankreich, Europas größtem Anbaugebiet. „Wir kaufen Flachsgarne aus französischen Spinnereien“, erläutert Gerster.
Flachsgewebeproduktion bei Gerster. Fotos: Gerster
Dies ist ein neues Material im Bereich der so genannten Verstärkungstextilien, die aus Glas, Aramid und Carbon sowie synthetischen Hochleistungsfasern bestehen. Überall, wo die Belastung hoch ist und jedes Gramm zählt, kommen solche Verstärkungstextilien weiterverarbeitet zu Composites zum Einsatz. So liefert Gerster auch Kohlefasergewebe für Carbon-Felgen eines Stuttgarter Sportwagenherstellers und sowie das Vorprodukt für die Carbon-Bremsscheiben der meisten Formel-1-Autos.
Anders als erdölbasierte Fasern bindet Flachs (der botanische Gattungsname ist Linum) beim Wachstum CO2, was insbesondere in der Automobilindustrie von Bedeutung ist. Muss doch mittlerweile für jedes Fahrzeug eine CO2-Bilanz aufgestellt werden. Die Anwendung von Naturfasern in Composites-Anwendungen stünde noch am Anfang, es passiere derzeit jedoch viel, sagt Gerster. Flachs habe ein gutes Crash-Verhalten, splittere nicht und sei besonders leicht.
Als eine junge Schweizer Firma, mit der die Biberacher zusammenarbeiten, vor acht Jahren mit ersten Produkten auf den Markt kam, wurde sie ausgelacht. Wie verrückt sei es doch, mit Strohsäcken Autos bauen zu wollen …
Anfangs wurde die Naturfaser in Surfbrettern und Skiern verbaut, mittlerweile gibt es Projekte mit allen europäischen Automobilherstellern. Vor wenigen Tagen habe ein schwedischer Automobilhersteller einen Elektro SUV präsentiert, in das Faserverbundbauteile mit Flachs eingebaut wurden. Gerster zeigt erste Fotos davon auf seinem Smartphone.
Ab dem Mittelalter war die Flachs-, beziehungsweise die Leinenweberei Biberachs wirtschaftliches Standbein. Das auf dem Weberberg aus Flachs hergestellte Leinen und das als Mischgewebe aus Flachs und Baumwolle hergestellte Barchent waren als Stoffe für die damalige Kleidung, begehrte Handelsware, Exportschlager und Grund für den damaligen Wohlstand Biberachs. Über die Jahrhunderte kam die Leinenweberei in Biberach jedoch völlig zum Erliegen, da etwa in Italien Leinen billiger hergestellt wurde. Nach mehr als 400 Jahren wird in Biberach, wo einst 400 Webstühle in Betrieb waren, wieder mit Flachs gearbeitet.
Wie vom Landwirtschaftsamt zu erfahren war, gab es vor rund zwanzig Jahren bei Riedlingen eine Gruppe von Landwirten, die Flachs zur Fasergewinnung angebaut haben, das Projekt wurde aber wieder eingestellt.
INFO:
Der Schützenbatzen hat eine lange Tradition
Biberacher Schulkinder können sich auch in diesem Jahr wieder über den „Schützenbatzen“ freuen: Seit über hundert Jahren erhalten sie einen Geldbetrag, derzeit 5 Euro, von der Firma Gerster. Vor 225 Jahren wurde erstmals ein Schützenbatzen von der Heiß´schen Stiftung an die Biberacher Schulkinder ausgegeben. Als diese Stiftung während der großen Inflation in den 20er-Jahren kaputt ging, wurde die Tradition, den Schulkindern eine Freude zu bereiten, von der Firma Gustav Gerster GmbH & Co. KG fortgesetzt. Familie Gerster zeigt damit ihre Verbundenheit zur Stadt. Zum Dank bringen die Trommlerkorps und Spielmannszüge der Mali- Hauptschule, der Dollinger-Realschule, des Pestalozzi-Gymnasiums, des Wieland- Gymnasiums, der Matthias-Erzberger-Schule, die Kleine Schützenmusik und allen voran die kleinen Schützentrommler der Familie Gerster jedes Jahr am Samstag im Innenhof der Gardinen- und Posamentenfabrik ein Ständchen. Neben dem Schützenbatzen unterstützt sie das Schützenfest mit Spenden und Produkten des Unternehmens zur Kostüm-, Festzugs- und Theaterausstattung.
Autorin: Andrea Reck