Baden-Württemberg – Vor fast zwanzig Jahren war bundesweit Schluss mit dem neunjährigen Gymnasium acht Jahre sollten genügen, doch die Kritik an der Reform verstummt nicht.
„Gebt unseren Kindern die Zeit zurück! Neun Jahre als Regelweg am Gymnasium – optional auch für Klassenstufen 6-10“, fordert die Initiative Volksantrag „G9-Gesetz BaWü“. Sie will dem Stuttgarter Landtag bis 13. November 39.000 Unterschriften vorlegen, am 21. Oktober fehlten noch 2000. Die Initiative fordert ein zeitgemäß reformiertes G9 an den allgemeinbildenden Gymnasien in Baden-Württemberg als Regelweg- mit der Möglichkeit eines G8 für diejenigen, die es leisten können und möchten. Auch Schüler der laufenden Klassen 6-10 sollen die Möglichkeit eines zusätzlichen Schuljahres erhalten, auch als Aufholmöglichkeit für Corona-Defizite.
Baden-Württemberg sei das letzte westdeutsche Flächenbundesland in dem an der 2004 eingeführten G8 Reform festgehalten wird – alle anderen Bundesländer haben nach anhaltender Kritik die Änderungen teilweise oder ganz wieder zurückgenommen, bedauert die Initiative. Auch Anja K. aus dem Landkreis Biberach sammelt Unterschriften. Warum fordert sie ein Volksbegehren? „Ich bin Mama einer Sechstklässlerin am G8-Gymnasium, die sich aufgrund des zusätzlichen Profilfachs und ihren diesbezüglichen Interessen und Fähigkeiten dafür entschieden hat. Nach einem guten Jahr habe ich den Eindruck gewonnen, dass viele Schülerinnen und Schüler zusätzliche Zeit benötigen, um den Stoff, der meines Erachtens komprimierter vermittelt wird, zu verstehen und zu verinnerlichen. Dafür geht sehr viel Freizeit drauf, um das Ganze aufzuarbeiten – mehr als ich am Gymnasium gebraucht habe. Zudem haben die Schüler und Schülerinnen mehr Wochenstunden. Somit brauchen manche auch mehr Zeit zum Erholen. Ich wünsche allen Zeit für die eigene Entfaltung. Ich bin daher für G9 für alle, die es brauchen und wollen. Aus diesem Grund unterstütze ich auch die ‚Initiative G9 jetzt BW‘.“
Acht Jahre oder neun Jahre bis zum Abitur? Baden-Württemberg ist das letzte westdeutsche Flächenland, das noch am Turboabitur festhält. Allerdings gibt es seit Jahren Gegenwind von Eltern, Schülerinnen und Schülern und auch Lehrerverbänden. Das Ziel der Schulzeitverkürzung war ein ökonomisches. Die Abiturienten sollten durch die Schulzeitverkürzung ein Jahr früher ihre Berufsausbildung beginnen und entsprechend früher Steuern und Sozialabgaben zahlen. Gleichzeitig wurde gefordert, trotz Wegfall eines Unterrichtsjahres dieselbe Stoffmenge zu vermitteln. Deshalb wurde in die acht Jahre des Turboabiturs die gleiche Zahl an Unterrichtsstunden (nämlich 265) gepresst, die sich früher auf neun Jahre verteilten.
Rolle vorwärts und zurück
Ein Blick zurück: In Preußen betrug die Schulzeit zwölf Jahre, während der Weimarer Republik 13 Jahre. In der NS-Zeit wurde sie wieder auf zwölf Jahre verkürzt. Nach dem Krieg gab es Unterschiede zwischen Ost und West. In der DDR wurden die zwölf Jahre Schulzeit beibehalten, die BRD entschied sich für 13 Jahre – bis zur Reform Anfang der Zweitausender Jahre.
Rolle rückwärts: Viele Bundesländer kehrten zum neunjährigen Gymnasium zurück, zuletzt Bayern 2018. Baden-Württemberg hingegen verlängerte nur den Modellversuch mit den 43 Gymnasien, die ebenso wie einige Privatschulen den Abschluss nach neun Jahren anbieten. Das bestätigte Kultusministerin Theresa Schopper im September 2022 der Deutschen Presse-Agentur in Stuttgart. „Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, keine Strukturdebatten zu führen. G8 bleibt also die Regelform“, erklärte die Grünen-Politikerin. „Aber um auch die bestehenden Optionen für die Schülerinnen und Schüler zum Erreichen der Allgemeinen Hochschulreife zu erhalten, wollen wir den Modellversuch G9 fortführen.“
Kommt es zur Volksabstimmung?
Für eine Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium wären nach Angaben des Kultusministeriums rund 1400 Stellen für Lehrkräfte zusätzlich nötig. Die Schulträger, also die Städte und Gemeinden, warnen zudem vor den Investitionen, die eine Rückkehr zu G9 auslösen würde. Die Landesregierung hatte sich aber im Juni 2023 erstmals offen für eine Rückkehr zu G9 gezeigt und ein Bürgerforum angekündigt. Dabei sollen zufällig ausgewählte Bürger ab Herbst über die Zukunft des Gymnasiums debattieren und der Politik am Ende Empfehlungen geben. Dutzende Verbände und Interessengruppen waren im Vorfeld beteiligt, darunter Schüler, Eltern, Lehrer und Rektoren – aber auch Kirchen, Gewerkschaften, Unternehmerverbände und Landtagsfraktionen.
Die Initiative muss bis 1. November 2023 Unterschriften von 0,5 Prozent der Wahlberechtigten in Baden-Württemberg sammeln, also von 39.000 Menschen. Die Elterninitiative nutzt die Möglichkeit, die Artikel 59 der Landesverfassung bietet. Darin heißt es, dass Gesetzesvorlagen von der Regierung, von Abgeordneten oder vom Volk durch Volksantrag oder Volksbegehren eingebracht werden können. Hat die Initiative „G9 jetzt!“ die notwendigen Unterschriften zusammen, so muss sich der Landtag mit dem Gesetzentwurf befassen. Lehnt dieser den Entwurf ab, so hat die Initiative die Möglichkeit, innerhalb von drei Monaten ein Volksbegehren zu beantragen. Wird das Volksbegehren von mindestens einem Zehntel der Wahlberechtigten unterstützt, gilt es als erfolgreich. Für die Unterschriftensammlung haben die Initiatoren in dem Fall sechs Monate Zeit. Wenn der Landtag der Gesetzesvorlage dann nicht unverändert zustimmt, kommt es zu einer Volksabstimmung. Dabei entscheidet grundsätzlich die Mehrheit der gültigen Stimmen über das Gesetz. Allerdings müssen in dem Fall laut Staatsanzeiger zudem mindestens 20 Prozent der Stimmberechtigten der Gesetzesvorlage zustimmen. Das ist das sogenannte Zustimmungsquorum, mit dem verhindert werden soll, dass kleine Interessensgruppen Gesetze durchbringen, nur weil sich viele Menschen im Land nicht an einer Abstimmung beteiligen.
Infos unter: www. g9-jetzt-bw.de
Autorin: Andrea Reck