Biberach – Die Lesekompetenz deutscher Schülerinnen und Schüler sinkt. Zum Glück gibt es engagierte Fachleute wie Corona Eggert von der Stadtbücherei Biberach, die kreativ dagegen halten.
„Das Interesse am analogen Buch steigt nach einem Einbruch während der Pandemie wieder“, beobachtet Corona Eggert, die kommissarische Leiterin des Medien- und Informationszentrums Stadtbücherei Biberach. Die Bibliothekarin und Medienpädagogin mit Schwerpunkt Leseförderung, die dort bereits während des Studiums 1998 ein Praktikum absolvierte, arbeitet mit 17 Kolleginnen und Kollegen, einige davon in Teilzeit, in der Viehmarktstraße 8. „Dieser Trend gilt auch für Erwachsene. Außer im Sachbuchbereich bei den Themen Technik, Datenverarbeitung und Recht. Rückläufig ist auch die Ausleihe von DVDs und CDs. Die Online-Ausleihe steigt hingegen vor allem im Belletristik-Bereich“. Mit Hilfe der App Libby können ganz einfach digitale Titel auf Tablet und Handy geladen werden. „Wir müssen uns laufend auf Neues einstellen und uns fortbilden“, erklärt Corona Eggert. „Dabei ist es derzeit nicht einfach, Fachkräfte zu gewinnen“.
Über mangelnden Zuspruch an Kundschaft hingegen kann sich die Stadtbücherei, seit 1996 untergebracht im aufwändig renovierten Gebäude am Viehmarkt, nicht beklagen. „Wir haben sehr viele Familien zu Gast. Die Benutzerausweise sind bis zum 18. Lebensjahr kostenlos. Man soll sich bei uns treffen können, wir haben ein offenes Haus.“ Jeder darf hereinkommen und auch ohne Ausweis im Erdgeschoss in Zeitschriften und Tageszeitungen blättern. „Hier hat sich auch eine Art Rentnerstammtisch etabliert“, freut sich die Leiterin. Dank der Transponder in den Büchern werde wenig gestohlen, lediglich bei PC-Spielen habe man eine Zeitlang Schwund beobachten müssen.
Alle Mitarbeitenden sind für einen bestimmten Bereich zuständig. Bei der Bestellung neuer Medien orientieren sie sich an Auswahllisten eines zentralen Dienstleisters. Auf die Frage nach den Trends lacht Corinna Eggert: „Hühnerhaltung beispielsweise. Veganes oder generell „cleanes“ Essen, Zero Waste, Bewegung. Gefragt sind auch die „#BookTok“-Titel, ein Hashtag der App TikTok, der vor allem jugendliche Leserinnen anspricht. Die Zielgruppe sind 15- bis 25- Jährige, die aufwändig gestaltete Liebesromane und Fantasy-Titel mögen. „Aber auch alte Bücher erfahren einen Hype und insbesondere englischsprachige. Da investieren wir dieses Jahr viel“. Eines der Zugpferde bei der analogen Ausleihe sind die Reiseführer.
Ein Buch für jeden Erstleser im Landkreis
Am Herzen liegt Eggert die Leseförderung. „Im ‚Netzwerk Lesen‘ kooperieren wir mit allen Kindergärten und Schulen der Stadt.“ Wichtig ist auch ‚Lesen bringt’s‘ in Kooperation mit dem Regionalen Bildungsbüro, mitfinanziert von der Bruno-Frey-Stiftung. Jeder Erstleser im gesamten Landkreis, also rund 2000 Kinder, bekommt hier ein Buch. Angeboten wird auch ein Elternabend in den Schulen, bei dem Lesebotschafter fürs Lesen und Vorlesen werben.
Viele Lehrkräfte und Erziehungsfachkräfte kommen mit ihren Kindern gerne in die Stadtbücherei. An drei bis vier Vormittagen werden bereits vor der Öffnungszeit um zehn Uhr Führungen gemacht. „Wir sind schon von der Architektur her ein offenes Haus. Ruhig funktioniert das meist nicht. Doch andere Besucher stört eher der Tumult rund um unseren Roboter im Erdgeschoss. Die Kinder lieben ihn, wir müssen uns für seinen sinnvollen Einsatz aber noch ein bisschen etwas einfallen lassen. Ebenso zum Thema Künstliche Intelligenz generell. Hier gibt es großen Informations- und Aufklärungsbedarf.“
Welche Tipps hat die Expertin dafür, Kinder zum Lesen zu animieren? „Bücher schon früh immer wieder spielerisch anbieten! Neuere Studien belegen, dass Leseförderung am besten analog funktioniert. Lesen am Tablet ist erst später sinnvoll. Auch ersetzt kein Hörbuch das Vorlesen. Bei Eltern-Kind-Führungen ermutigen wir schlecht deutsch sprechende Eltern in ihrer Muttersprache vorzulesen. Grundlagen fürs Lesen lernen erwirbt man in jeder Sprache.“
Weitere Infos: www.medienzentrum-biberach.de
Wie gut lesen Schüler in Deutschland?
Erschreckend: Die 15-Jährigen in Deutschland fallen bei PISA 2022 in allen Kompetenzbereichen auf die niedrigsten Werte ab, die je gemessen wurden. Getestet wurden die Kompetenzen in Mathematik als Hauptdomäne, im Lesen und in den Naturwissenschaften als Nebendomänen. In Mathe verfehlen 30 Prozent der Jugendlichen die Mindestanforderungen, im Lesen sind es 25 Prozent. Die Leistungen der Schülerinnen und Schüler in Deutschland liegen in den Bereichen Mathematik und Lesekompetenz nahe am OECD-Durchschnitt, nur in den Naturwissenschaften leicht darüber. 2018 war Deutschland in allen Kompetenzbereichen noch über dem OECD-Durchschnitt. Mit Ausnahme von Japan gehen die Leistungen von 2018 bis 2022 in allen Ländern zurück. Die Spitzenländer in allen drei Kompetenzbereichen sind Singapur, Japan, Korea und Estland.
Im Bereich Lesekompetenz erreichen etwa 75 Prozent der 15-Jährigen in Deutschland das Mindestniveau (OECD-Durchschnitt: 74 Prozent). Diese Schülerinnen und Schüler sind zumindest in der Lage, die Hauptaussage eines mittellangen Textes zu erfassen. Die Gruppe der besonders leseschwachen Schülerinnen und Schüler, die das Mindestniveau verfehlen, liegt bei 25 Prozent. Im Vergleich zu 2018 hat der Anteil um 5 Prozent zugenommen. An nichtgymnasialen Schularten liegt der Anteil der Leseschwachen sogar bei 35 Prozent. Aber auch an Gymnasien hat sich der Anteil gegenüber 2013 verdoppelt auf 3,8 Prozent. Diese Jugendlichen sind kaum in der Lage, Texte sinnentnehmend zu lesen.
Der Anteil der 15-Jährigen, deren Eltern beide im Ausland geboren wurden, liegt 2022 in Deutschland bei 26 Prozent (13 Prozent im Jahr 2012). Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund weisen meist ein ungünstigeres sozioökonomisches Profil auf als solche ohne Migrationshintergrund. Insgesamt gelten 25 Prozent aller Schülerinnen und Schüler in Deutschland als sozioökonomisch benachteiligt, unter den Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund liegt dieser Anteil bei 42 Prozent. In Mathematik haben die 15-Jährigen ohne Migrationshintergrund im Durchschnitt einen Leistungsvorsprung von 59 Punkten gegenüber den Gleichaltrigen mit Migrationshintergrund. Wird der sozioökonomische Nachteil herausgerechnet, bleibt immer noch ein Leistungsabstand von 32 Punkten. Beim Lesen liegen die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund um 67 Punkte zurück.
In Deutschland erzielen die Jungen in Mathematik 11 Punkte mehr als die Mädchen, während die Mädchen im Bereich Lesekompetenz um 19 Punkte besser abschneiden. Beim Lesen scheitern 29 Prozent der Jungen an den Mindestanforderungen, bei den Mädchen fällt der Anteil mit 22 Prozent geringer aus.
Weitere Infos: www.deutsches-schulportal.de/bildungswesen/die-zehn-wichtigsten-ergebnisse-der-pisa-studie/
Autorin: Andrea Reck