Ochsenhausen – Vor dem Rathaus in Ochsenhausen erinnert seit dem 7. Juli eine Infotafel an die Vertreibung einer jüdischen Familie aus der ehemaligen Nazi-Hochburg. Zu verdanken ist sie zwei bemerkenswerten Siebzehnjährigen vom Ochsenhauser Gymnasium.
Sarah Göser und Fabian Gmeinder, beide 17 Jahre alt, gehen gerne auf Partys. Ganz normale Schüler der 11. Jahrgangsstufe des Ochsenhauser Gymnasiums. Doch nebenher haben sie rund 300 Stunden ihrer Freizeit investiert für die Recherche über die Lebensgeschichte einer jüdischen Familie in Ochsenhausen. Haben online in den Arolsen Archives, dem internationalen Zentrum über NS-Verfolgung, und in australischen Archiven sowie vor Ort im Staatsarchiv in Sigmaringen nach Hinweisen gesucht, um Details über Theresia und Adolf Haarburger und deren Nachkommen zu finden. Die Forschenden waren im Rahmen des Kursprojekts „Auswirkungen der Gleichschaltung auf die Jugendlichen anhand des Marktflecks Ochsenhausen“ auf die einzige jüdische Familie im Ort gestoßen. Und dies nicht im Rahmen eines Geschichts-Leistungskurses (der nicht zustande kam), sondern aus eigenem Interesse und Antrieb.
Bereits in der 9. Klasse hatte Geschichtslehrer Frank Heckelsmüller Fabian Gmeinder aufmerksam gemacht auf die Vorarbeit einer ehemaligen Geschichtslehrerein, die vor 30 Jahren über Familie Haarburger geforscht hatte. Heckelsmüller hatte 2015 in einem Roman „Einigkeit, Unrecht und Freiheit“ die Geschichte von Franz Fricker erzählt, der 1890 in Barabein geboren wurde, seinen Großvater. Er beschreibt in einem Interview Ochsenhausen als „eine kleine NSDAP-Hauptstadt in der Umgebung“. Fabian Gmeinder fand zusammen mit Sarah Göser, die in der 10. Klasse dazu stieß, in den Archiven bestätigt, dass die NSDAP-Funktionäre in der Gemeinde sehr geachtet waren. Es gab ein antisemitisches Theaterstück, die Karnevalsgesellschaft präsentierte rassistische Umzugswagen. Lediglich der katholische Kolpingverein hielt Abstand. Wer in der Partei war, durfte nicht Mitglied des katholischen Gesellenvereins sein. 1933 wählten fast 45 Prozent der Ochsenhauser die NSDAP, etwas mehr als der Durchschnitt in Württemberg. Ochsenhauser waren auch beteiligt bei der Brandstiftung in der 2300-Einwohner-Gemeinde Buchau, wo damals knapp 200 Juden lebten. In der Pogromnacht des November 1938 misslang der erste Versuch von SA-Männern aus Ochsenhausen und Saulgau, die Synagoge in Brand zu setzen, da Buchauer Einwohner das Feuer löschen konnten. Erst beim zweiten Versuch in der folgenden Nacht brannte die Synagoge bis auf die Grundmauern nieder.
Deportation nach Theresienstadt
Adolf Haarburger, dem nach einer Verletzung im Ersten Weltkrieg ein Bein amputiert worden war, zog mit seiner Frau 1922 von Baisingen nahe Rottenburg am Neckar, wo es eine jüdische Gemeinde mit Synagoge und Friedhof gab, nach Ochsenhausen, eine arme, landwirtschaftlich geprägte Gemeinde. Sie wohnten im ersten Stock des heutigen Gasthauses Pizzeria zur Alten Post. In einem Raum im Erdgeschoss verkaufte Theresa Schuhwaren, das dokumentieren auch Anzeigen im Rottum-Boten. Wenige Tage nach dem Umzug wurde Tochter Luise geboren, 1923 Sohn Manfred. Beide gingen auf die katholische Volksschule. Luise besuchte ab 1935 die Realschule in Laupheim. Die wirtschaftliche Lage der Familie Anfang der dreißiger Jahre war schlecht, der Viehhandel Haarburgers lief schleppend, Adolf half seiner Frau beim Schuhverkauf, der Invalide fuhr mit dem Fahrrad bis ins Illertal zu Kunden. 1936 kündigten die Vermieter auf Druck der Nationalsozialisten Wohnung und Geschäftsräume. Die Familie zog zurück in Adolfs Heimatstadt Baisingen. 1942 wurden beide in das Ghetto Theresienstadt in der besetzten Tschechoslowakei deportiert. Adolf half bei der Reinigung der Latrinen, Theresa arbeite als ausgebildete Krankenschwester im Siechenheim. Ende 1944 entgingen sie dem Abtransport nach Auschwitz und wurden im Mai 1945 von der Roten Armee befreit, Adolfs Bruder Ludwig war in Theresienstadt gestorben. Adolf und Theresia zogen nach Baisingen und emigrierten 1953 nach Victoria/Australien, wo ihre Kinder lebten. Wann Tochter Luise Ochsenhausen verlassen hatte, ist nicht bekannt. Nach ihrer Krankenschwesterausbildung in Köln begleitete sie einen Transport nach Theresienstadt. Nach eineinhalb Jahren kam sie ins KZ Auschwitz und wurde schließlich in Bergen-Belsen von den Briten befreit. 1947 heiratete sie den polnischen Juden Felix Salcman und wanderte mit ihm nach Australien aus. Mit ihrem zweiten Mann bekam sie Sohn Eric. Sie starb 2010.
Videobotschaft aus Colorado
Wie aus einem Video hervorgeht, das die beiden Gymnasiasten von Greg Haarburger aus Colorado erhielten, war sein Vater Manfred, Luises Bruder, mit einem Kindertransport über die Schweiz nach England gekommen. Er spielte Fußball für Aston Villa. Später zog er mit seiner Schwester nach Australien und heiratete Eva, eine Christin aus Wien. Als er später einmal auf Besuch zu einem Jahrgänger-Treffen nach Ochsenhausen kam, das müsste 1965 gewesen sein, stieß er auf Ablehnung.
Fabian Gmeinder und Sarah Göser würden gerne die Haarburgers aus Colorado bewegen, nach Ochsenhausen zu kommen. Die beiden haben schon viel erreicht. Der Bürgermeister von Ochsenhausen Philipp Bürkle war gleich Feuer und Flamme für den Vorschlag, am ehemaligen Wohnhaus der Familie eine Infotafel aufzustellen, auch der Gemeinderat plädierte dafür. Sie wurde schließlich in Sichtweite des Wohnhauses jenseits der Rottum vor dem Rathaus aufgestellt und am 7. Juli nach einem Vortrag der Forschenden mit vielen Besuchern enthüllt. Natürlich ist auch ein QR-Code darauf mit weiteren Informationen.
Wie kamen die beiden dazu, sich für dieses Thema zu engagieren? Sarah Göser, die aus einer Lehrerfamilie in Kirchheim stammt, erinnert sich, schon als Kind viel vor Geschichtsbüchern gesessen zu sein. Ein Besuch im Laupheimer Museum zur Geschichte von Christen und Juden in der 6. Klasse hat sie beeindruckt und ihr Interesse an verschiedenen Religionen geweckt. Sie will selbst Geschichte und Politikwissenschaft für Lehramt studieren. Fabian, der sich in der DLRG engagiert und in der Schule Ski-Mentor ist, plant, Jura zu studieren. „Meine beiden Opas haben mir viel von früher erzählt“, erklärt er sein Interesse für Geschichte. „Beim Entziffern der Sütterlinschrift hat mir meine Oma geholfen“.
Gegenwind haben die Jugendlichen wegen ihres Engagements noch nicht gespürt. Bedenklich sei, wenn man aktuell an verschiedenen Stellen wieder Lieder mit antisemitischen und rassistischen Inhalten hört, so Fabian, der ebenso wie Sarah Göser weiß, wie viel Aufklärungsbedarf besteht.
Buchtipps:
Franz Fricker: Einigkeit, Unrecht und Freiheit, 3 Bände, 2020, Books on Demand, je 15,99 €.
Ludwig Zimmermann: Das katholische Oberschwaben im Nationalsozialismus, Eppe Verlag Aulendorf 2021, 30 €.
Peter Eitel: Geschichte Oberschwabens Band 3; In den Strudeln der großen Politik (1918-1952). Jan Thorbecke Verlag 2023; 34 €
Autorin: Andrea Reck