Ravensburg/Weingarten – Er ist nicht als Rebell geboren, wenngleich sein Vorname eine germanische Kampfansage ist. Einerseits. Andererseits ist 1960 Wolfgang der beliebteste Jungenname und damit ein Synonym für ein Nachkriegskind, das im Wachstums-wunderland auf die Welt gekommen ist. Das gilt auch für Wolfgang Ertel, der 1959 in der Schweiz geboren und in Leutkirch aufgewachsen ist, wo sein Vater als Lkw-Fahrer am Wohlstand mitbaute. Erfolgreich, denn als Professor ist sein Sohn ein typisches Beispiel für ein Aufsteigerkind, das sich mit 65 Jahren im neuen Jahr in den Ruhestand verabschiedet. Der keiner sein wird, denn der Professor hat sich zum Revoluzzer fortgebildet. Von einem, der auf Bäume steigt.
Es ist nicht so, dass der studierte Physiker und promovierte Informatiker nicht auch akademische Meriten verdient hätte, schließlich gründete er 2008 an der Hochschule Ravensburg-Weingarten das Institut für Künstliche Intelligenz und war somit Wegbereiter einer Technologie, die er heute für gefährlicher hält als die Atombombe. Dazu mehr im Interview. Es kann festgestellt werden: Ertels akademische Karriere ist tadellos. Seinen persönlichsten Erfolg sieht er aber darin, dass er gemeinsam mit Samuel Bosch, einem damals 18-jährigen Aktivisten aus dem Altdorfer Wald, im Mai 2021 im Hochschulcampus in Weingarten auf einen Baum geklettert ist, von dort zum Institutsgebäude ein Seil gespannt hat, an dem zwei Transparente und schließlich Bosch und Ertel kopfüber hingen und protestierten. Wogegen? Gegen einen betriebswirtschaftlichen und klimaschädlichen Irrsinn. Nämlich gegen die permanente Beheizung – das heißt auch in den Semesterferien, die ja bekanntlich dauern – von Hörsälen und Seminarräumen und für eine intelligente Heizungssteuerung. Weil er den Protest nicht angemeldet hatte, wurde Ertel im April 2022 vom Amtsgericht Ravensburg zu einer Geldstrafe von 4000 Euro verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, sowohl Ertel als auch die Staatsanwaltschaft haben Berufung eingelegt, und das Gericht lässt sich Zeit. Ertels „Straftat“ spart indes dem Land viel Geld und der Atmosphäre einiges an CO2, denn was ihm all die Jahre selbst als Nachhaltigkeitsbeauftragter an der Hochschule nicht gelang, und er am bürokratischen Filz scheiterte, erledigte sich mit einem Anruf der Ministerin Theresia Bauer, die auf die bundesweiten Schlagzeilen reagierte (BILD berichtete) und sich persönlich beim „Professor im Baum“ über sein Wehklagen erkundigte und prompt Abhilfe verschaffte. Seitdem wird die Heizung nach Bedarf geregelt. Für Wolfgang Ertel, den passionierten Kletterer, war die ministerielle Intervention sowohl Genuss als auch Offenbarung, dass trotz vieler Widerstände etwas geht beim Klimaschutz – wenn man sich traut.
Und daran soll’s nicht mangeln, das hat er sich für seinen Ruhestand vorgenommen. Dass er seit einigen Jahren auffällig geworden ist, weil er als arrivierter Beamter und Wissenschaftler mit den Schülerinnen und Schülern von Fridays for Future in Ravensburg auf dem Marienplatz demonstrierte und wiederholt aus Protest auf Bäume kletterte und damit den Verkehr behinderte, sieht er als Reifungsprozess zu einem Thema, das ihn berührt: die Klimakrise. Ihre Existenz ist in der Wissenschaft schon lange unbestritten, aber was tun als Wissenschaftler, wenn man weiß, dass die Zeit zum Handeln unwiederbringlich läuft und die Gesellschaft darüber debattiert, ob es statthaft ist, dass SchülerInnen aus Protest gegen das politische Nichtstun und für ihre Zukunft hin und wieder die Schule schwänzen? Das treibt dem sportlichen Opa schon mal die Tränen in die Augen, wenn er mit seinem Enkel auf dem Arm bei einer Demo dem bunten SchülerInnenhaufen Mut macht und die Stadtoberen auffordert, endlich mehr und Konkreteres zu tun, um ihren Kindern eine Chance auf ein Leben zu lassen, das nicht von Angst und Schrecken bestimmt wird.
Auch wenn er weiß, dass er in Ravensburg vielen auf die Nerven geht und manch einer ihn „für einen kriminellen Spinner“ hält, an der Hochschule fühlte er sich gut aufgehoben: sein Fach war spannend, er war anerkannter KI-Experte, die Studierenden waren interessiert und erfolgreich, und am Institut war er bis vor zwei Jahren noch Chef. Es geht dort nicht um Sprach-KI wie Chat GPT, sondern um Servicerobotik, also technische Dienstleistung beispielsweise in der Pflege. Zu 80 Prozent habe ihm sein Beruf Freude gemacht, 20 Prozent musste er als Bürokratie ertragen, resümiert der Professor zum Berufsende. Und wendet sich davon ab.
Auch das ist ein Reifungsprozess, weil Ertel es nicht beim Verstehen der Symptome des Klimawandels und dessen Entstehung belassen hat, sondern als Physiker wissen will, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ und dabei feststellt, dass unser Wirtschaftssystem mit seinem zwanghaften Wachstum dabei ist, diese Welt im Innersten zu zerstören. „Der Kapitalismus muss weg“, damit erschreckt Ertel als Referent und Diskutant schon mal seine ZuhörerInnen. Denn da hört der Spaß auf: es geht schließlich um Wohlstand und Komfort -, den auch Wolfgang Ertel genießt, aber wohl dosiert und bewusst. Er fliegt nicht mehr, fährt Fahrrad oder E-Auto und ernährt sich vegan. Ab 1998 wohnte die Familie mit drei Kindern im eigenen überschaubaren Passiv-Haus mit kleinem Garten. Über seinen Tesla, nicht teurer als ein Mittelklassewagen, kommt er ins Schwärmen, die einfache Ausführung reiche ihm völlig. Er sei „begeisterter Techniker“, aber: „Die Technik alleine löst die Probleme nicht.“ Weil die Technik die Probleme auch verursache. Der technische Fortschritt, so auch die KI, sei Treiber des Wachstums und jede Effizienzsteigerung führe zu mehr Wachstum, das permanent Grenzen überschreite. „Ohne Schrumpfen geht gar nichts“, ist sich der Wissenschaftler sicher und empört sich über die Grünen. „Grünes Wachstum ist eine Lüge!“
Wolfgang Ertel ist nicht als Revoluzzer geboren, dazu fehlte ihm auch das politische Interesse. Statt auf Anti-Atomkraft-Demos ging er zur Bundeswehr, zwei Jahre zu den Gebirgsjägern nach Berchtesgaden, weil er gerne kletterte. Im Anschluss forderte ihn sein Studium der Mathematik und Physik in Konstanz. „Ich war gezwungen, hart zu arbeiten.“ Daran änderte auch die Promotion nichts. Dann galt es, in der Industrie sich zu bewähren und sich mit einem Studienaufenthalt in den USA zu profilieren, bevor er als Professor nach Weingarten berufen wurde. Sein Ehrgeiz war groß und von Erfolg gekrönt, denn mit dem Institut für Künstliche Intelligenz beschritt er Neuland. Institute sind Forschungseinrichtungen, die es bis dahin an Fachhochschulen, später Hochschulen nicht gab. „Ich hab’ g’schafft wie ein Wilder“, erinnert sich Ertel und weiß, dass es gerade im Mittelalter schwierig ist, sich um mehr zu kümmern als um Beruf, Familie und Nestbau. Das Klima soll warten. So ging es auch ihm. Aber Wissenschaft basiert auf Fragen – Goethes Faust will wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält? – und der Naturwissenschaftler, Techniker, Scientist for Future und Naturliebhaber Ertel will wissen, warum diese Welt so sehr bedroht ist, und was man dagegen tun kann. Nachhaltigkeit ist schon seit 20 Jahren sein Thema, dazu hält er auch öffentliche Vorlesungen und seine Studis müssen sich auch mit praktischen Schritten in Nachhaltigkeit üben, Fahrgemeinschaften bilden zum Beispiel. Machen und nicht nur schwätzen ist sein Credo, das ihn bei allem Wissen um die Bedrohung dieses wunderbaren blauen Planeten in der Balance hält. Und ihn gelegentlich auf Bäume treibt. Auch das hilft!
Lesen Sie das Interview mit Prof. Wolfgang Ertel hier.
Autor: Roland Reck