Baden-Württemberg – „Was gilt die Wette, wir schaffen die Kette!“ Was für eine Kette, was für eine Wette? Es geschah vor 40 Jahren, dass die Friedensbewegung mit einer 108 Kilometer langen Menschenkette von Stuttgart bis Neu-Ulm die Stationierung von Atomraketen und Cruise Missiles in Europa verhindern wollte. Ein kühner Gedanke, ein toll-dreistes Unterfangen. Das Unterfangen, die Kette, gelang, die Absicht, damit die „Nachrüstung“ verhindern zu können, scheiterte. 40 Jahre danach wütet ein heißer Krieg in Europa und die Friedensbewegung, die einst Millionen Menschen bewegte, lässt es geschehen, ist nicht mehr existent. Eine Spurensuche.
Der 22. Oktober 1983 war ein schöner Herbsttag, ein Samstag mit Fußballwetter. In Stuttgart wartete der VfB ungeduldig auf den FC Bayern München. Das Top-Spiel war verschoben worden, es sollte erst um 17 Uhr beginnen. Der Grund: eine Abschlusskundgebung mit über hunderttausend, vielleicht sogar über zweihunderttausend Menschen, die sich selbst feierten, blockierte die Landeshauptstadt. Denn an diesem Tag war es der Friedensbewegung um 12.40 Uhr gelungen, zwischen Stuttgart und Neu-Ulm, entlang der B 10 eine 108 Kilometer lange Menschenkette zu bilden, um damit gegen den drohenden Beschluss der so genannten „Nachrüstung“ durch den Bundestag zu protestieren. 20 Minuten lang hielten sich bis zu 400.000 Menschen an den Händen, um zu verhindern, dass 108 Pershing-II-Atomraketen in Mutlangen und anderswo stationiert werden. Streckenweise standen die Menschen, jung wie alt, von überall aus dem Ländle kommend, mit Hund und Kindern nicht nur in einer Kette, sondern sich in einer Doppelkette gegenüber und sangen „We shall overcome … we’ll stand hand in hand“ und hüpften zu „Hopp-hopp-hopp, Atomraketen-Stopp“. Ein ewig langer Lindwurm in friedlicher Verzückung.
Mancherorts gab es zu Beginn Gottesdienste und kleinere Auftaktkundgebungen. In Westerstetten sprach Inge Aicher-Scholl, Schwester der von den Nazis hingerichteten Geschwister Hans und Sophie Scholl und Frau von Grafiker Otl Aicher, der eine mehrteilige Plakatserie als Appell gegen die Atomraketen und für die Menschenkette entworfen hatte. Überhaupt, die Promidichte aus Kultur und Wissenschaft war in der Friedensbewegung enorm hoch.
Medial war ein „heißer Herbst“ vorhergesagt. „Als um 12.55 Uhr die Schweigeminuten für den Frieden begannen, wurden auch Polizisten beobachtet, die sich beteiligten“, lässt die im Haus der Geschichte Baden-Württembergs tätige Historikerin Sabrina Müller das magische Geschehen Revue passieren. Zuvor habe ein Polizeibeamter noch begeistert in sein Funkgerät gerufen: „Wir haben’s geschafft, die Kette ist geschlossen“, berichtet die Wissenschaftlerin aus ihren Quellen.
Am Ausgangspunkt, in Stuttgart, gaben sich zu diesem Zeitpunkt Gottfried Härle und Ursula Maurer in der Eberhardstraße die Hand, unweit der Schlossstraße, wo das Paar seit einem halben Jahr im „Aktionsbüro Herbst 83“ mit unendlichem Fleiß auf diesen Moment hingearbeitet hatte. Gottfried Härle war 29 Jahre alt und hatte sich im achtköpfigen Organisationsteam um die Verkehrslogistik gekümmert, um die 48 Sonderzüge, mit denen ein Großteil der DemonstrantInnen an- und abreisten, hinzu kamen noch über 1000 Busse. Das Geschäft mit der Bahn lief wie geschmiert. Für jeden Sonderzug mussten im Voraus 20.000 DM bar bezahlt werden, erzählt der heute 69-jährige Leutkircher im Biergarten vor seiner Brauerei. Neben ihm seine Frau (66), die vor 40 Jahren im Aktionsbüro dafür sorgte, dass die vielen Kleinspenden und Einnahmen aus dem Verkauf von Friedensutensilien ordentlich verwaltet wurden, damit Gottfried Härle für seine vielen Sonderzüge immer flüssig war.
Kann man sich das heute vorstellen, dass die Deutsche Bahn eine solche logistische Meisterleistung hinkriegt? Es wäre schon deshalb nicht möglich, weil viele der kleinen Bahnhöfe entlang der B10 überhaupt nicht mehr existieren. Vielerorts waren die eingesetzten Sonderzüge länger als die Bahnsteige, was aus Sicherheitsgründen ein Problem war. Die Sorge, dass bei diesem Massenandrang etwas passieren könnte, war groß. Aber die Kooperation mit Bahn und Polizei habe gut funktioniert, erinnert sich Härle. Die Kontakte auf politischer Ebene mit Roman Herzog als Innenminister und Mayer-Vorfelder als Präsident des VfB, beide CDU, seien deutlich frostiger gewesen. Man habe keinen Zweifel daran gelassen, dass man den Beschluss, den das Friedensbündnis gefasst hatte, auch umsetzen werde, betont Gottfried Härle, der auch die Rolle des Pressesprechers inne hatte.
Das Friedensbündnis bestand aus einer bunten Vielzahl von kirchlichen und gesellschaftlichen Initiativen und politischen Organisationen, das sich im Juni 1983 in Neu-Ulm in einer langwierigen Diskussion mit 1000 TeilnehmerInnen im Edwin-Scharff-Haus darauf geeinigt hatte, dass die „Volksversammlung für den Frieden“ in Süddeutschland die Menschenkette zwischen der europäischen Kommandozentrale der US-Armee (EUCOM) in Stuttgart-Vaihingen und den Wiley Barracks in Neu-Ulm und Abschlusskundgebungen in Stuttgart und Neu-Ulm durchführt. Gleichzeitig fanden am 22. Oktober weitere Großdemonstrationen in Bonn, Hamburg, und Berlin statt. 1,3 Millionen Menschen hätten an den bundesweiten Veranstaltungen der Friedensbewegung teilgenommen, bilanziert die Historikerin Sabrina Müller. Und „Meinungsumfragen mehrerer Institute zeigten, dass rund 75 Prozent der Bevölkerung die Nachrüstung ablehnten und weitere Verhandlungen favorisierten“, stellt Müller fest.
Die Friedensbewegung war eine Graswurzelbewegung, die von einer Vielzahl von unterschiedlichsten Initiativen getragen wurde und mit den jährlichen Ostermärschen auf Tradition und Erfahrung basierte. Dazu zählte beispielsweise auch „Schweigen für den Frieden“ als öffentliche Veranstaltung, passiv, aber mobilisierungsbereit und aktionsfähig, wie der 22. Oktober beweisen sollte. So erfolgte die Mobilisierung unmittelbar vor Ort, wo auch die Zugtickets in alternativen Buchhandlungen und Ökoläden vertickt wurden. Man netzwerkte Tag und Nacht – ohne Handy, Internet und Social Media, es gab noch nicht einmal Fax. Dafür umso mehr Versammlungen, bei denen nicht selten gestritten wurde wie die Kesselflicker, wenn sich die Ökos mit den Kommunisten zofften und sich die Schweiger mit den Blockierern rauften und Christen mit den Autonomen in den Clinsch gingen. Es kam auf die Kommunikation an, dazu gehörte der Streit, aber eben auch eine funktionierende Infrastruktur. Um diese am Tag der Kette zu gewährleisten, wurden alle Telefonhäuschen entlang der Strecke besetzt, um eventuelle Lücken melden zu können, erzählen Härles beim Kaffee. Und als motorisierte Boten patrouillierten Mitglieder des Motorradclubs „Kuhle Wampe“, schließlich verlief die Strecke quer über die Schwäbische Alb, wo sich ansonsten Fuchs und Has’ Gute Nacht sagten.
Die Menschenkette war eine friedliche Meisterleistung ohne Schäden und ohne Verletzte, das anerkannte auch die Polizei, wie Ulli Thiel, Ideengeber und treibende Kraft für die Aktion, berichtete. Von „Gänsehaut“ erzählt das Ehepaar Härle in Erinnerung an den Kettenschluss vor 40 Jahren, an Details können sie sich aber kaum noch erinnern, zu groß war der Stress und die Sorge bis zum Schluss, ob alles klappt und gut verläuft. Das Paar hatte sich bereits während des Studiums der Volkswirtschaft in Konstanz kennen gelernt und zog danach nach Stuttgart, wo Ursula Maurer in einer Steuerkanzlei anheuerte und Gottfried Härle in Vollzeit im „Aktionsbüro“ landete, und wo Maurer später die Finanzen verwaltete. Zufall war es nicht, denn Härle war wie Ulli Thiel aktives Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner (DFG-VK) und als Kriegsdienstverweigerer auch in der Beratung tätig. In seiner Heimatstadt Leutkirch organisierte er Friedenswochen und Festivals – Graswurzelarbeit eben. Als Sohn und designierter Nachfolger des honorigen Brauereibesitzers ein starkes Stück im „Tor zum Allgäu“. Statt in die väterlichen Fußstapfen zu treten (was er später tat), organisierte er die Sonderzüge für die Menschenkette und war neben Ulli Thiel einer von drei Sprechern des Aktionsbüros, die am Abend des 22. Oktobers in der Tagesschau dem staunenden Publikum den Erfolg der Menschenkette mitteilen konnte.
Welch ein Hochgefühl, sollte man meinen. Aber der Glückseligkeit, von der weder Gottfried Härle noch seine Frau sprechen möchte, aber sicherlich bei vielen tanzenden, singenden und weinenden TeilnehmerInnen der Menschenkette spürbar war, folgte exakt einen Monat später „der Schock“ (Ulli Thiel), als der Bundestag am 22. November 1983 in Bonn trotz aller Proteste und gegen die Mehrheit der Bevölkerung, wie Umfragen bestätigten, die Dislozierung der 108 Atomraketen beschloss, die noch vor Weihnachten begann.
Einziger Trost: der VfB gewann 1:0 gegen die Bayern.
Worum es ging
Am 12. Dezember 1979 beschlossen die NATO-Staaten in Brüssel auf Initiative der SPD-geführten Bundesregierung mit Helmut Schmidt als Kanzler die Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenwaffen. Sie rechtfertigten diese Modernisierung als Notwendigkeit zum Ausgleich einer Lücke in der atomaren Abschreckung, die durch die Stationierung der sowjetischen SS-20-Raketen zustande gekommen sei. Im zweiten Teil des „Doppelbeschlusses“ forderte die NATO bilaterale Verhandlungen der Supermächte über die Begrenzung ihrer atomaren Mittelstreckenraketen (Reichweite zwischen 1000 und 5500 km) in Europa. Dabei sollten die französischen und ein Teil der britischen Atomraketen ausgeklammert bleiben. Aber sollten die SS-20 abgebaut werden, würden die Pershing-II-Raketen nicht aufgebaut werden.
Es folgte viel (Ab-)Rüstungsdiplomatie, die einem Raketen-Poker mit irrwitzigem Overkill-Potential glich und vor tiefgreifenden weltpolitischen Veränderungen stattfand. In den USA wurde am 20. Januar 1981 Ronald Reagan als 40. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt, und in der Sowjetunion folgte am 12. November 1982 Juri Andropow dem verstorbenen Leonid Breschnew als Generalsekretär der kommunistischen Partei.
Die Friedensbewegung kritisierte die „Abschreckungslogik“, die zum Wettrüsten führe und warnte vor einem Atomkrieg, der durch die minimale Vorwarnzeit der Mittelstreckenraketen ausbrechen könnte. Erhard Eppler, einer der profiliertesten Nachrüstungsgegner und innerparteilicher Kontrahent von SPD-Kanzler Helmut Schmid, kritisierte in seinem Buch „Die tödliche Utopie der Sicherheit“ (1983) die Abschreckungslogik.
Auch nach dem Scheitern der Genfer Verhandlungen zwischen der UdSSR und den USA im November 1982 lehnten Bevölkerungsmehrheiten mehrerer NATO-Staaten die geplante „Nachrüstung“ ab. Eine Abgeordnetenmehrheit des Deutschen Bundestages stimmte ihr am 22. November 1983 dennoch zu, inzwischen regierte Helmut Kohl (CDU) in Koalition mit der FDP. 286 Abgeordnete entschieden sich bei 225 Gegenstimmen und einer Enthaltung für die atomare Nachrüstung. Ab Dezember 1983 wurden die neuen Atomraketen aufgestellt. Die Friedensbewegung hatte ihr Ziel nicht erreicht.
Literaturtipp: Cäcilie Kowald erlebte als Kind die Menschenkette und schrieb dazu einen Roman „Menschenkette“, 8 grad verlag, 2022.
Autor: Roland Reck