Skip to main content
Marlis Glaser, jüdische Künstlerin. Foto: Reck

Attenweiler / Bad Buchau – Ich klingle ein zweites Mal, es ist später Nachmittag, aber schon dunkel, und ich bin zu früh. Dann höre ich eine fragende Stimme hinter der Metalltür und antworte erfreut. Die Tür öffnet sich und Marlis Glaser steht im Rahmen, den die zierliche Frau in ihrem weißen Maleroverall bei weitem nicht ausfüllt und so einen Blick in ihr beleuchtetes Atelier zulässt. Die nächsten zwei Stunden werde ich der Künstlerin zuhören. Die nur kurz mit den Tränen kämpft, um mich dann mitzunehmen auf ihre Reise zu ihrem jüdischen Glauben, ihrer Kunst und ihrem Erleben dessen, was am 7. Oktober über sie und ihre Glaubensgemeinschaft hereingebrochen ist, als Hamas-Terroristen in Israel etwa 1200 Menschen massakrierten und über 200 als Geiseln verschleppten.

Mit wem sprechen?, ist eine wiederkehrende Frage im Journalismus. Wer kann und wer will was sagen? Je sensibler das Thema, desto schwieriger. Mein Thema ist: Wie kann es sein, dass 85 Jahre nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938 und dem folgenden Massenmord an sechs Millionen jüdischer Frauen und Männern und deren Kindern und Enkelkindern Juden und Jüdinnen in Deutschland wieder in Angst leben? Nie wieder! Das ist auch mein Verstehen unserer Geschichte. Nicht Schuld, aber Verantwortung, so habe ich es gelernt.

ANZEIGE

Ludwig Walz, geboren 1898 in Ulm, gestorben in Riedlingen. Als entschiedener Gegner des NS-Regimes verweigerte er 1939 den Kriegsdienst und kam ins Militärgefängnis, wo ihm mit der Todesstrafe gedroht wurde. Er verweigerte den Hitlergruß und lehnte die Beflaggung mit der Naz-Fahne an seinem Geschäftshaus in Riedlingen ab, wo er von 1947 bis 1954 dort Bürgermeister war. 1974 wurde er von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem als „Gerechter unter Völkern“ ausgezeichnet und geehrt. Über acht Jahre, bis 1942, fuhr er jede Woche mit dem Motorrad von Riedlingen in das über 30 Kilometer entfernte Buttenhausen, um die Familien in der jüdischen Gemeinde mit Lebensmitteln zu versorgen.
Aus: Marlis E. Glaser; Blüten und Neumond, Gebet und Portraits. 2021. Das Porträt wurde von Veit Feger aus Ehingen initiiert und gespendet und findet sich im Riedlinger Rathaus.

Marlis Glaser gibt sich preis, schon lange in ihrer Kunst und auch im Gespräch mit mir, dem Journalisten. Angst habe sie nicht, trotz Vorsicht an der Türe, aber „es ist wahnsinnig anstrengend, seit dem 7. Oktober ist unser Leben ein anderes“, erklärt die 71-Jährige zur Begrüßung. Die Schwäbin, die ein astreines Hochdeutsch spricht, stammt von einem Bauernhof in Baltringen bei Laupheim. Und statt ihr Abitur am Pestalozzi-Gymnasium in Biberach zu machen, trampt die Schülerin nach Frankreich. „Ich bin geflüchtet“ aus der oberschwäbischen Enge, meint sie. Und holt in Bremen auf dem Zweiten Bildungsweg nach, was sie zu Hause versäumt hat, studiert Lehramt und schließlich Kunst. Ist politisch links, aber die Kommunisten sind ihr zu spießig. Die Bekanntschaft und entstehende Freundschaft mit dem jüdischen Regisseur Karl Fruchtmann, der mit seiner kanadischen Frau, der Malerin Janet Clothier, 1958 wieder nach Deutschland zurückgekehrt war und später an der Uni in Bremen als Professor für Filmwissenschaft lehrte, eröffnet für die wissbegierige Oberschwäbin eine neue Welt: die jüdische. Sie findet ein Universum an Religion, Kultur und Geschichte, an Geisteshaltung und praktischem Leben, das sie mehr und mehr in den Bann zieht. Es ist die Freiheit, die sie suchte.

„Die Frage nach dem Schöpfer bleibt ja“, erklärt die Künstlerin ihre Suche, die sie Anfang der 90er Jahre zum Austritt aus der Katholischen Kirche und 2016 zum Eintritt ins Judentum führte. „Ich lerne ja schon seit 30 Jahren über das Judentum und vom Judentum“, erklärt Marlis Glaser ihren Weg. Es sei die Kunst und die Psychoanalyse gewesen, die ihren Weg bestimmten. Und der führt sie mit Ehemann und den beiden Söhnen Samuel und Joshua 1998 zurück in ihre oberschwäbische Heimat nach Attenweiler. Ihre Ehe überdauert die Suche nicht, 2013 trennt sich das Paar.

ANZEIGE
Das Bild links, gemalt von Marlis Glaser anlässlich des russischen Überfalls auf die Ukraine hing im Rathaus, das Bild zu Israel war dort nicht erwünscht.

Glaser reist mehrmals nach Israel, ist dort Gast bei Emigranten und Überlebenden des Holocausts und porträtiert diese. Ihre ausdrucksstarken Porträts wurden ihr Markenzeichen. In intensiver Auseinandersetzung mit den Lebenden und den Toten malt sie die Porträtierten in meist hellen Farben, ergänzt diese mit Symbolen und Textfragmenten, die ihren Lebensweg beschreiben. „Ich mag Menschen“, sagt Marlis Glaser, „ich will Menschen mit meiner Kunst erfreuen“.

Schon seit 2008 lädt die Künstlerin am ersten Sonntag im September zum „Europäischen Tag der jüdischen Kultur“ in ihr Atelier ein. Vor zwei Jahren gedachte man „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“, anlässlich dessen Marlis Glaser einen Katalog veröffentlichte voller farbenfroher Bilder zu ihrem jüdischen Glauben und mit nachdenklichen Porträts von Jüdinnen und Juden, die im Nationalsozialismus vertrieben oder ermordet wurden (Blüten und Neumond, Gebet und Portraits, 2021).

Am 7. Oktober feiert Marlis Glaser mit ihrer jüdischen Gemeinde in Zürich das Fest Simchat Tora. Die Erwachsenen tanzen mit der Torarolle im Kreis und werfen den Kindern Süßigkeiten zu. Es gibt zu essen und zu trinken. Es ist ein fröhliches Fest, bis die ersten Nachrichten über das Massaker in Israel die Festgesellschaft schockieren. Marlis Glaser ist immer noch fassungslos, „niemand konnte es fassen“, beschreibt sie die erste Reaktion. „Es war irreal, es war jenseits aller Vorstellungen.“

Zurück in Attenweiler hängt sie eine Israel-Flagge an ihre Hausfassade, sichtbar von der Hauptstraße. In ihrem Wohnort fühle sie sich sicher, in ihrer Nachbarschaft wohnten Rumänen, keine Islamisten, erklärt sie, aber dennoch sei sie unter ständiger Anspannung. „Es ist wahnsinnig anstrengend.“ So könne sie nicht arbeiten. Aber was tun? Sie fragt im Rathaus, ob sie neben ihrem Bild, das dort seit über einem Jahr hängt und die Flagge der Ukraine zeigt mit dem Wort „Shalom“ (Friede), auch ein Bild hängen darf mit der israelischen Flagge und demselben Wunsch „Shalom“. Der Bürgermeister will es nicht. Glaser ist getroffen und hängt auch das Ukraine-Bild ab.

Die Welt hat sich verändert. Das Schweigen hier nach dem Terror dort, das viele Juden in Deutschland ängstigt, hört auch Marlis Glaser mit Entsetzen. „Es gab keinen Aufschrei.“

Ihre außergewöhnliche Synagoge war der Stolz der jüdischen Gemeinschaft in Buchau und zeugte von 600 Jahren christlich-jüdischen Zusammenlebens. Bis am 11. November 1938 die SA aus Ochsenhausen das Gotteshaus in Brand steckte. Fotos: Archiv Mayenberger

Nicht weit von Attenweiler entfernt, findet sich Bad Buchau am Federsee. Es war einst eine jüdische Enklave mit traumhafter Geschichte. 600 Jahre lebten Christen und Juden friedvoll miteinander zum Wohle aller. Bis am 9. und 11. November 1938 die SA aus Ochsenhausen einfiel, um die Synagoge in der Riedstadt in Schutt und Asche zu legen. Zu diesem Zeitpunkt lebten 736 jüdische Menschen in der Stadt, ein Drittel der Einwohnerschaft. Davon überlebten nur vier den Genozid, drei davon kehrten nach dem Krieg nach Buchau zurück. Charlotte Mayenberger kennt die jüdische Geschichte ihrer Heimatstadt in- und auswendig. Über diese Geschichte und das Wirken der Lokalhistorikerin gibt es eine Dokumentation „Jüdisches Leben am Federsee – eine Spurensuche“. Der Film wurde dieser Tage in der evangelischen Kirche in Bad Schussenried gezeigt. Der Raum war proppenvoll mit Ü-50-Jährigen. Der Film endet mit der Frage, was getan werden muss, dass ein solches Menschheitsverbrechen nie wieder geschieht. In der anschließenden Fragerunde wurde die anwesende Historikerin für ihr Engagement hoch gelobt. Den Bogen zur berechtigten Angst der Juden in Deutschland nach dem 7. Oktober spannte niemand.

Dabei hätte Charlotte Mayenberger erzählen können, dass beim alljährlichen Schweigemarsch zum Gedenken an den Synagogenbrand und an die erloschene jüdische Gemeinde in Bad Buchau in diesem Jahr „die Polizei mitgelaufen ist“. Erstmals, wie Mayenberger betont. Und ja, es habe Überlegungen gegeben, die Gedenkveranstaltung abzusagen. „Das kann nicht sein, dass wir uns so weit einschüchtern lassen“, wehrt sich die 67-Jährige. „Wenn wir Gedenktage nicht mehr machen, dann ist es weit gekommen“, mahnt die unerschrockene Frau. „Und wenn wir nicht vorsichtig sind, dann sind wir ganz nah dran, wir müssen die Zeichen sehen.“

Nie wieder ist jetzt!

Autor: Roland Reck



NEUESTE BLIX-BEITRÄGE

Editorial BLIX Januar/Februar 2025

Liebe Leserinnen, liebe Leser, das Jahr 2024 ist Geschichte. Es war anstrengend, wie ich finde. Also freuen wir uns auf das neue Jahr 2025 und hoffen auf Leichterung. Und bevor ich jetzt gleich wieder gegen meinen Skeptizismus ankämpfe, will ich mich bedanken:
erschienen in: BLIX Januar/Februar 2025

Jahresillustration 2025

Zum schmunzeln und nachdenken. Von unserem Illustrator Michael Weißhaupt.
erschienen in: BLIX Januar/Februar 2025

Ahnungslos

Die Aufgabe lautete: mit Hilfe Künstlicher Intelligenz (KI) eine autokratische Person zu kreieren, die sich um den Job des Bundeskanzlers bewirbt. Sechs ExpertInnen fanden sich im Auftrag des SWR dafür in einem Studio in Hamburg zusammen, um dieses Experiment vor laufender Kamera zu wagen. Florian Vögtle ist einer davon. Der Multimedia-Unternehmer aus Aulendorf ist als Social-Media-Experte gefragt und dafür verantwortlich, dass der virtuelle Bundeskanzlerkandidat über die diversen Internet-Ka…
erschienen in: BLIX Januar/Februar 2025

Auf dem Weg „zur Hölle“

Weingarten – „Die Digitalisierung überrennt Gesellschaft, Unternehmen und jeden Einzelnen von uns mit unvorstellbarer Dynamik und Wucht. Während manche Auswirkungen in unserem Alltag sichtbar und spürbar sind, bleibt vieles andere vage und im Verborgenen“, erklärt Prof. Bela Mutschler in seinem Blog und benutzt das Bild eines Eisbergs, um die Situation zu beschreiben. „Gesellschaft, Unternehmen und Individuen sehen vor allem das, was über der Wasseroberfläche zu erkennen ist“, und damit …
erschienen in: BLIX Januar/Februar 2025

„Wir wollen keine Verbotskultur“

Allgäu / Oberschwaben – Nicht alle sehen das geplante Biosphärengebiet Allgäu-Oberschwaben als Chance für Mensch, Tier, Natur und Umwelt. Eine Allianz von Forstbesitzern und Landeigentümern formierte sich während des breit angelegten Prüfprozesses gegen das Projekt. 
erschienen in: BLIX Januar/Februar 2025

Irregeleitet

Ravensburg – Der Sturm um das Glashaus hat sich noch nicht gelegt, sollte die Hoffnung bestanden haben. Die Diskussion um die Rechtsdrift der Schwäbischen Zeitung hält an. Nachdem die KollegInnen von der Süddeutschen über die taz bis zur ZEIT und FAZ der Chefredaktion in Ravensburg ein schlechtes Zeugnis für gefällige Interviews mit AfD-Mann Krah und dem Rechtsaußen Maaßen ausstellten und fleißig in der miesen Stimmung im Glashaus rührten, rumort es in der Leserschaft weiter. Der folgende Off…
erschienen in: BLIX Januar/Februar 2025

Glänzende Aussichten

Biberach – Die „Oma & Opas for Future Biberach“ veranstalten im Januar die Karikaturenausstellung „Glänzende Aussichten“. 
erschienen in: BLIX Januar/Februar 2025

„Kein Platz für Gewalt gegen Frauen“

Aulendorf – Im Landkreis Ravensburg werden demnächst 13 rote Bänke als sichtbare Zeichen gegen Gewalt an Frauen zu finden sein – den Anfang machte Aulendorf, wo darüber öffentlich informiert wurde.
erschienen in: BLIX Januar/Februar 2025

Kunst kennt keine Grenzen

Mochenwangen / Baienfurt – Der Mann ist vielbeschäftigt – immer noch. Egon Woblick ist Fotograf, der gleich zwei Ausstellungen – im Januar in Mochenwangen und im Februar in Baienfurt – bestreitet, und 90 Jahre alt ist. Woblick blickt dabei auf sein Lebenswerk zurück und tut dies in Baienfurt gemeinsam mit der Künstlerin Maria Niermann-Schubert. Eine Ausstellung ganz besonderer Art.
erschienen in: BLIX Januar/Februar 2025

„Ich wollte, du und ich …“

Attenweiler – Am 22. Januar jährt sich der 80. Todestag von Else Lasker-Schüler, der Dichterin schönster Liebesgedichte. Als Hommage an sie vertonte der in Jerusalem geborene und in Berlin lebende Tenor und Kantor Yoëd Sorek einige ihrer Gedichte. Er trägt sie vor bei der Ausstellung „Ich wollte, du und ich …“ der Künstlerin Marlis E. Glaser. 
erschienen in: BLIX Januar/Februar 2025

Besuch im „Hotel Silber“

Stuttgart – Ein Ort der Erinnerungen, kaum bekannt, wie eine Umfrage in meinem Umfeld ergab. In der Weimarer Republik war das ehemalige „Hotel Silber“ von 1928 bis 1933 das Zentrum der Politischen Polizei; nahtlos wurde es unter den Nazis zum Zentrum der Geheimen Staatspolizei, GESTAPO, von Württemberg-Hohenzollern. In der Sonderausstellung „GESTAPO vor Gericht. Die Verfolgung von NS-Verbreche(r)n“ wird eine fast durchgehend skandalöse Phase der westdeutschen Nachkriegsjustiz exzellent reche…
erschienen in: BLIX Januar/Februar 2025

Bilder, die anstoßen

Berg in der Pfalz – Kaum war der Besuch fort, kam die Unbill. Der Künstler Hermann Weber ist Bauernjunge aus Mettenberg bei Biberach und lebt und arbeitet in Berg in der Pfalz, nahe der französischen Grenze. Es ist für den 65-Jährigen mit seinem Hund Bruno ein Rückzugsort, wo er gerne auch Gäste empfängt.
erschienen in: BLIX Januar/Februar 2025

Müller-Meier oder Müller Meier 

Wie heißen wir nach der Hochzeit? Ab Mai kann laut liberalisiertem Namensrecht auch ein aus den Familiennamen beider Ehegatten gebildeter Doppelname als Ehename bestimmt werden. 
erschienen in: BLIX Januar/Februar 2025

„Wir wollen Alternativen aufzeigen“

Der vom Ulmer Hirnforscher Prof. Manfred Spitzer vor Jahren geprägte Begriff der „digitalen Demenz“ wird nicht von allen Medienpsychologen geteilt. Aber gerade erst sprachen sich Augsburger Pädagogen für ein Handy-Verbot in Schulen aus. Wie gehen die Schulen in der Region damit um? 
erschienen in: BLIX Januar/Februar 2025

Sonnenenergie vom Balkon 

Biberach – Die Kosten für ein Steckersolar-Gerät sind überschaubar. Doch bei Fragen, was es beim Kauf und der Montage zu beachten gilt, sollte man sich von Experten beraten lassen. Zum Beispiel am 15. Januar um 19 Uhr in Biberach im Gemeindehaus St. Martin, Kirchplatz 3-4.
erschienen in: BLIX Januar/Februar 2025

ANZEIGEN

BLIX-NEWSLETTER

VERANSTALTUNGEN

ALLGÄU-OBERSCHWABEN

Scheidegg – Achtung, am Samstag, 25. Januar, wird es in der sonst so friedlichen Waldwelt Skywalk Allgäu laut: Zwei G…
Haidgau / Haisterkirch – In den Tagen vor und nach dem Sebastianstag (20. Januar) kommen viele Pilger zur Wald-Kapell…
Region – Entdecke die Welt des Fingerfoods: Schnapp dir deine Kochlöffel und sei dabei, wenn wir gemeinsam köstliche …
Überlingen – Hoher Sachschaden entstand am Donnerstagmorgen (23.1.) gegen 9.00 Uhr bei einem missglückten Parkmanöver…
Eriskirch/ Bodenseekreis – Die Polizei registriert nach wie vor eine hohe Anzahl von Betrugsdelikten an Telefon, Comp…