Die Aufgabe lautete: mit Hilfe Künstlicher Intelligenz (KI) eine autokratische Person zu kreieren, die sich um den Job des Bundeskanzlers bewirbt. Sechs ExpertInnen fanden sich im Auftrag des SWR dafür in einem Studio in Hamburg zusammen, um dieses Experiment vor laufender Kamera zu wagen. Florian Vögtle ist einer davon. Der Multimedia-Unternehmer aus Aulendorf ist als Social-Media-Experte gefragt und dafür verantwortlich, dass der virtuelle Bundeskanzlerkandidat über die diversen Internet-Kanäle Bekanntheit erfährt.
„Der Autokraten-Code“ lautet das Ergebnis, das als Dokumentation am 23. Oktober 2024 in der ARD zu sehen war und in der Mediathek weiter zu finden ist. Dort heißt es zum Inhalt: „Kann Künstliche Intelligenz genutzt werden, um Demokratien zu schaden? Sechs Expert:innen aus verschiedenen Bereichen wagen ein einzigartiges Experiment: Sie erschaffen mit Hilfe von KI eine autokratische Führungspersönlichkeit für Deutschland.“ Das Thema ist heiß und statt „Ampel-aus“ hätte auch „Künstliche Intelligenz“ zum Wort des Jahres getaugt. Beides zusammen, der politische Blackout in Berlin und die technische Revolution der KI, schaffen die aktuelle Brisanz zu dem sehenswerten Unterfangen, zu dem es weiter heißt: „International sieht es für die Demokratie nicht gut aus. 2023 lebten weltweit 70 Prozent der Menschen in einer Autokratie, einem System, in dem die Macht bei einer Person oder einer kleinen Gruppe liegt.“ Die Frage der Filmemacher: „Sehnen wir uns auch in Deutschland nach starker Führung?“
Maximilian Weber, 53 Jahre alt, Stuttgarter, politischer Berater, Schachspieler und Fußballfan, verheiratet, zwei Kinder, ist dieser starke Mann. Sein Aussehen, seine Stimme, seine Vita und politische Agenda – alles basiert auf den Entscheidungen der Computerintelligenz. Der KI-Politiker wird im Vorfeld der Europawahl im Sommer 2024 auf verschiedenen Social-Media-Plattformen getestet. Am Ende muss er sich sogar einem Interview mit ARD-Moderatorin Caren Miosga stellen, die erstaunt feststellt, dass der virtuelle Kandidat sich „im Stil“ kaum von realen Politikern unterscheidet. Flankiert wird das Projekt von Einschätzungen der Internet-PionierInnen und KI-ExpertInnen Geoffrey Hinton und Wendy Hall sowie dem Soziologen Nils Kumkar. Respekt: „Der Autokraten-Code“ ging als Gewinner aus dem ARD-Dokumentarfilmwettbewerb TopDocs hervor.
Da darf doch gefragt werden, wie es Florian Vögtle aus dem Schatten des Aulendorfer Schlosses ins Rampenlicht nach Hamburg schaffte? Kein Problem in Zeiten des WorldWideWeb. Der Recherche folgte der Anruf der Produktionsfirma bei der BFG Media Group® in Oberschwaben, und Florian Vögtle ließ sich das Experiment nicht entgehen. „Die Produktion des Films fand im Zeitraum von Mai bis Juli statt, verteilt über insgesamt neun Produktionstage, die sich über etwa zweieinhalb Monate erstreckten. Der Dreh fand in Hamburg in einem James-Bond-artigen Cyberraum statt“, berichtet der 45-Jährige. In dieser Zeit arbeitete das gemischte Team, das sich aus einer Politikwissenschaftlerin über eine Markenstrategin bis zu einem ehemaligen Hacker zusammensetzte, daran, „den Autokraten Maximilian Weber auf KI-Basis zu konzipieren, zu visualisieren und mit der richtigen digitalen Strategie aktiv über die Social-Media-Kanäle an die Bürgerinnen auszuliefern“, erklärt Vögtle.
Es geht um Politik, Macht und Technik, und es geht um die Frage, wie verführbar die Menschen in Deutschland sind. Die Doku zeigt dabei ein minimalistisches Labor, das sechsköpfige Team hat nur wenig Zeit und Geld zur Verfügung (Budget: 10.000 Euro für Software etc.). Geradezu lächerlich, wenn man weiß, welche Powerplayer sich mit KI beschäftigen. Es sind die globalen Datenkraken aus dem Silicon Valley, und China nicht zu vergessen. Denn nichts geht bei der KI ohne Daten. Sie sind die Goldgrube, in der die KI schürft und aus dem Rohstoff mit Hilfe der Algorithmen gleich feinstes Geschmeide liefert, je nach Frage und Auftrag. Noch kommen diese von Menschen, zumindest in Hamburg.
Es ist dem Team anzumerken, dass ihm unheimlich ist, was es tut: mit Hilfe der KI eine virtuelle Person zu erschaffen, die Nationalismus predigt, den starken Führer propagiert und Putin als Autokrat verehrt – und sich als solche zur Wahl stellt. „Mein Name ist Maximilian Weber. Ich will Bundeskanzler werden!“
„Der Autokraten-Code“ ist eine Dokumentation, deren Studio gleicht einer Versuchsanordnung in einem Labor, also ein Experiment, das mit der Außenwelt konfrontiert wird, indem Maximilian Weber sich im Videoclip einer Gruppe WahlbürgerInnen (rund 40) präsentiert. Der künstliche Protagonist kommt an, seine Parolen sind simpel: „Ich passe in keine Schubladen. Ich mache Politik maximal.“ Die argumentative Schlichtheit stößt manchem Zuschauer auf, aber nur zwei vermuten einen Fake und tippen auf eine KI-Kreation. Schließlich folgt der Härtetest: das Interview mit der Journalistin Caren Miosga, bekannt für ihre präzisen Fragen –, die sekundenschnell von der KI verarbeitet und beantwortet werden. Im Bild ist Maximilian Weber zu sehen, der in Politikermanier seine Stichworte abliefert, kein großer Auftritt, dafür deutlich antidemokratisch, bemäntelt in der Forderung nach „starker Führung für Deutschland“. Es ist AfD-Sprech, dessen sich die KI für ihren Autokraten bedient. Unheimlich. Der Profi Caren Miosga zeigt sich nach dem Interview sichtlich irritiert. Was ist wirklich: Fakt oder Fake? Oder ist der Fake Fakt?
Und wie beurteilt Florian Vögtle das gemeinsame Werk? „Die Doku zeigt sehr deutlich, wie KI und Social Media genutzt werden können, um politische Kommunikation auf eine neue Ebene zu heben. Was beunruhigend ist, ist die Einsicht, wie effektiv diese Technologien in der politischen Landschaft eingesetzt werden können, um Meinungen zu beeinflussen und politische Agenden voranzutreiben. Da Maximilian Weber als KI-Autokrat eine so starke Reichweite aufbauen konnte, zeigt, dass die BürgerInnen die KI generierten Inhalte nicht kritisch sehen oder diese überhaupt nicht zuordnen können.“
Und wie weiter? „Es wird sich beruflich für alle Bereiche einiges ändern. Die KI-Revolution wird so stark sein wie die Industrielle Revolution oder die Erfindung des Internets. KI noch gezielter und verantwortungsbewusster einzusetzen, ist die Herausforderung der Stunde und der Zukunft. Es wird immer wichtiger, diese Technologien so zu nutzen, dass sie nicht nur effizient, sondern auch ethisch vertretbar sind. Persönlich bin ich noch nachdenklicher geworden, was die Auswirkungen von KI auf unsere Gesellschaft betrifft.“
Wendy Hall, die britische Informatikerin, könnte altersmäßig die Mutter von Florian Vögtle sein. Die 72-jährige Wissenschaftlerin hat maßgeblich an der Entwicklung des Internets mitgewirkt und ist als Expertin in der Doku gefragt. Mit Blick auf die gesellschaftlichen Wirkungen von Social Media und den Gefahren von KI erklärt sie: „Ich fühle mich ein wenig mitschuldig, weil ich an der Entwicklung beteiligt war. Wir haben es nicht kommen sehen.“
Halls britischer Kollege Goeffrey Hinton (77) ist ebenfalls gefragter Experte in der ARD-Doku. Der Informatiker und Kognitionspsychologe, der für seine Grundlagenforschung zum maschinellen Lernen just 2024 den Physik-Nobelpreis erhalten hat, warnte in seiner Rede im Dezember in Stockholm eindringlich vor den Gefahren der KI. „Wir haben keine Ahnung, ob wir die Kontrolle behalten können.“
Der Autokraten-Code
ARD, 23. Oktober 2024,
Video verfügbar in Mediathek: www.ardmediathek.de/video/der-autokraten-code/der-autokraten-code/ard/
Autor: Roland Reck
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