„Valle Maira“ – „Walle was? Valle Maria?“ – „Nein. Valle Maíra. Das liegt im Piemont, Grenzregion zu Frankreich. Geheimtipp für Wanderer und Bergfreunde. Lass uns da mal hingehen.“ Es war vor fast einem Jahr, als mein Freund und Bergkamerad Kalle mir diesen Vorschlag machte. Und dieses Jahr sind wir also hin: 8 Wandertage im Valle Maira.
Mit dem Zug fährt man in 1 Tag dorthin: Von Aulendorf über Zürich, den Gotthard-Tunnel, Mailand, Turin nach Cuneo. Das dauert nicht länger als mit dem Auto. Nach einer angenehmen Nacht im Hotel fahren wir mit dem Bus ins Maira-Tal nach San Damiano di Macra, wo unser Aufstieg beginnt.
Wir sind schnell begeistert: auf einsamen Wegen und Pfaden durchwandern wir dichte Wälder aus Buche, mit Anteilen von Ahorn, Esche und Tanne. In höheren Lagen gesellt sich die Lärche hinzu, ganz wenige Fichten. Vorbei an verfallenen Häusern und Weilern, die vom Wald zurückerobert werden; vorbei an alten Höfen in malerischer Lage, die gerade renoviert und offenbar als Feriendomizil genutzt werden. Überall finden sich Spuren früherer, intensiver Landnutzung durch Ackerbau und Viehzucht, doch hat sich der Wald sein Areal wieder zurückerobert. Die Wälder machen größtenteils den Eindruck, ungenutzt zu sein: stammzahlreich, dunkel, und äußerst vital. Kaum je ein geworfener Baum oder eine von Borkenkäfern gefressene Fichte. Niemals hätten wir hier, so weit im Süden und vom Mittelmeer beeinflusst, einen so artenreichen, stabilen Buchenwald vermutet. Wie kam’s dazu?
Bis ca. 1950 wurden die Berghänge intensiv genutzt und gaben der Bevölkerung ein bescheidenes Auskommen. Viehzucht, ein wenig Ackerbau, Waldnutzung, Kastanien: das war die Basis. Viele Männer haben sich zeitweise in der Poebene oder in Frankreich als Wanderarbeiter verdingt. Das änderte sich nach dem zweiten Weltkrieg mit der aufstrebenden Industrialisierung der städtischen Zentren um Turin und Mailand: jetzt wanderten viele junge Menschen dauerhaft ab, suchten und fanden ihr Auskommen in der Po-Ebene in den großen Fabriken von Fiat, Continental und anderen Unternehmen. Der Exodus ließ die Bevölkerungszahl im Valle Maira kontinuierlich sinken, und mit ihm die Intensität der Landnutzung. Der Wald holte sich seine ursprünglichen Flächen in erstaunlicher Geschwindigkeit zurück und zeigte damit die enorme Regenerationskraft der Natur.
Unser erstes Nachtquartier ist eine alte Schutzhütte der Resistenza, benannt nach einem der ehemalige Führer, Detto Dalmastro. Überrascht stellen wir fest, dass hier oben ein Erinnerungsweg an diese Epoche angelegt wurde, mit Hinweisschildern, Erklärungen, und vorbei an Gedenkstätten fürchterlicher Massaker der Jahre 1943 bis 1945. Was war der historische Hintergrund?
1943 erkrankte der Duce Mussolini schwer. Um den Linken und den Demokraten zuvorzukommen, stürzten ihn faschistische und königstreue Kräfte und setzten unter Marschall Pietro Badoglio eine neue, konservative Regierung ein mit dem Ziel, sich langsam von Hitlers Deutschland zu lösen. Nach nur 45 Tagen besetzte die Wehrmacht Italien und installierte unter dem kranken Mussolini ein Marionetten-Regime. In dieser Zeit bildete sich die Resistenza, das Pendant zur französischen Résistance und den jugoslawischen Partisanen um Marschall Tito.
Heute ist das Geschichte. Die Italiener erinnern sich daran, aber sie begegnen den Gästen durchweg freundlich und herzlich, auch denen aus Deutschland. Auch hier hat eine Regeneration stattgefunden: von Feindseligkeit über Annäherung und Versöhnung zu Freundschaft.
Weiter geht’s auf dem Percorsi occitani – dem Mairaweg, im Schatten dichter Wälder, über wenige, besonders artenreiche Wiesen und Weiden, durch kleine, malerische Bergdörfer. Kaum ein Mensch begegnet uns. Dass wir hier so gut wandern können, in der Stille und der kraftvollen Natur Erholung finden, ist das Ergebnis eines Tourismusvereins, der sich in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts gegründet hat. Er setzte sich zum Ziel, das Tal touristisch zu erschließen und damit Einkommensquellen zu schaffen, um der noch verbliebenen Bevölkerung ein Auskommen zu ermöglichen. Dabei wurde von Anfang an gezielt auf sanften Tourismus gesetzt: es gibt keine Bergbahnen im Valle Maira, es gibt keine Hotels und keine großen Ressorts für Massentourismus, es gibt keine Schnellstraße. Stattdessen gibt es ein feines Netz aus markierten Wanderwegen, kleinen Herbergen und Rifugio genannten Hütten, die von den Einheimischen in herzlicher, authentischer Weise geführt werden. Sie sind allesamt hervorragend geeignet, die Kultur und den Lebensstil der Piemonteser kennen zu lernen und über italienischen Spezialitäten ins Gespräch zu kommen. Seit einiger Zeit hat sich der Trend umgekehrt: auch jüngere Menschen kehren zurück in ihre alte Heimat und finden mehr und mehr ihr Auskommen. Aus dem Verfall wurde die Wiederbelebung eines landschaftlich traumhaften Alpentales.
Wer höher hinaus will, der kann das tun: rund um das Mairatal erheben sich Gipfel bis zu einer Höhe von 2.500 bis 2.800 m. Ein besonderes Stück bietet die allernächste Grenzregion zu Frankreich. Hier finden sich noch gut erhaltene Reste des Alpenwalls: die italienischen Faschisten unter Mussolini errichteten hier umfangreiche Befestigungsanlagen, um sich vor dem demokratischen Frankreich zu schützen. Auch hier Hinweisschilder und Gedenktafeln, die an diese Zeit erinnern. Heute freilich ist aus der Feindschaft eine Freundschaft geworden: Italiener und Franzosen begegnen sich selbstverständlich diesseits und jenseits der Grenze, sind sich wohlgesonnen und kooperativ.
Wer Erholung sucht in der Stille, wer Kraft tanken möchte in unverfälschter Natur, wer Sinn hat für kulinarischen Genuss und guten Wein, wer sich Inspiration holen möchte für Versöhnung und Wiederaufbau: der ist im Valle Maira richtig. Eine wahre Oase der Regeneration. Das macht Mut in diesen Zeiten.
Weitere Informationen: www.percorsioccitani.it
Wandern Valle Maira – Piemonte – Italy (wandern-piemonte.it)
Autor: Dietrich Knapp