Die Elterninitiative „G9 jetzt BW“ will es sofort, aber mit einer Rückkehr zum G9 am Gymnasium sei in Baden-Württemberg frühestens im Schuljahr 2025/26 zu rechen, erklärt die Landesregierung.
Zur Geschichte: Die G8-Reform wurde vor allem aus ökonomischen Erwägungen eingeführt und nicht aus pädagogischen Gründen. Zum einen sollte G8 die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Abiturient/-innen in Deutschland erhöhen, da sie im internationalen Vergleich relativ alt sind, wenn sie die Schule abschließen. Zum anderen sollte G8 einen früheren Arbeitsmarkteintritt ermöglichen und damit die Sozialversicherungssysteme entlasten und dem Fachkräftemangel entgegenwirken. In Baden-Württemberg ist seit den 2000er Jahre das achtjährige Gymnasium Standard. G9 gibt es noch als Modellprojekt an 44 staatlichen Schulen und an einigen Privatschulen. Auch an den beruflichen Gymnasien und Gemeinschaftsschulen kann das Abitur nach neun Jahren abgelegt werden. Im letzten Jahr hatte eine Elterninitiative, die die Rückkehr zu G9 erreichen will, einen Volksantrag erfolgreich auf den Weg gebracht, mehr als 100.000 Unterschriften gesammelt und dem Landtag übergeben. Kretschmann, selbst Lehrer, hatte nach der Übergabe der Unterschriften eine zeitnahe Rückkehr zu G9 als nicht realistisch bezeichnet und bezweifelte, dass eine Reform noch in dieser Legislaturperiode umzusetzen sei.
Am 17. April 2024 lehnte der Landtag den von der Elterninitiative „G9 jetzt BW“ eingereichten Volksantrag zur flächendeckenden Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium mit 47 Ja- und 88 Nein-Stimmen ab. Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) bedankte sich für ein aus ihrer Sicht wichtiges Signal durch die Initiative. Die Elterninitiative hat jetzt die Möglichkeit, innerhalb von drei Monaten ein Volksbegehren zu beantragen. Dafür müssen rund ein Zehntel aller Wahlberechtigten im Südwesten unterschreiben. Derzeit wären das etwa 770.000 Menschen. Gelingt der Vorstoß, landet die Gesetzesvorlage erneut vor dem Landtag. Wird er dort wiederum abgelehnt, kommt es zur Volksabstimmung.
Der Landeselternbeirat (LEB) bewertete das Scheitern des Volksantrags in einer Stellungnahme explizit nicht als Misserfolg. Im Gegenteil: „Die fast 107.000 Unterschriften haben die Koalition dazu gezwungen, sich des Themas anzunehmen“, deutet LEB-Vorsitzender Sebastian Kölsch die Landtags-Entscheidung.
Der Städtetag Baden-Württemberg warnte vor den Folgen für andere Schularten, sollte Baden-Württemberg zum neunjährigen Gymnasium zurückkehren. Derzeit gingen fast 25 Prozent der Schülerinnen und Schüler mit Gymnasialempfehlung auf die Realschule, viele von ihnen würden künftig eher G9 wählen. Auch die Kapazitäten an den Gymnasien könnten aus Sicht des Kommunalverbands an Grenzen stoßen.
Anja Blüthgen, Leiterin des Kreisgymnasiums Riedlingen, einer der 44 staatlichen G9-Modellschulen des Landes, gibt auf Nachfrage von BLIX zu bedenken: „Meiner Meinung nach sollte bei der Wiedereinführung von G9 eine ordentlich Planung zu Grunde liegen. Man kann nicht so einfach das Konzept der Modellschulen auf alle Schulen übertragen. Es sind viele Dinge noch nicht geplant und offen, zum Beispiel die fehlende Lehrerversorgung, Räume, begabte Schüler und Schülerinnen, die nur maximal acht Jahre fürs Abitur benötigen, und so weiter. Bevor diese Dinge nicht konzeptionell durchdacht sind, würde die Wiedereinführung meiner Meinung nach nicht gelingen.“
Der Philologenverband hält eine sofortige Umstellung auf G9 mit gestreckten G8-Bildungsplänen im Sinne eines Corona-Aufholjahres bereits im nächsten Schuljahr für möglich. Dies bestätigen nach Angaben des Verbandes zahlreiche Schulleitungen an Gymnasien.
G9 zu Lasten beruflicher Schulen
„G9 Jetzt BW“-Mit-Initiatorin Corinna Fellner betonte, eine der Kernforderung des Volksantrags sei die Mitnahme laufender Klassen; „Man darf jene Kinder, die noch Corona im Gepäck haben, nicht einfach vergessen“. Die Mehrheit der Unterzeichner ihres Volksantrags setze sich für Kinder ein, die derzeit ein Gymnasium besuchten. Thomas Speck, Vorsitzender des Berufsschullehrerverband Baden-Württemberg (BLV) warnte: „Die Auswirkungen auf alle anderen Schularten werden erheblich sein und müssen daher genau in den Blick genommen werden“. Da die Ressourcen an Lehrkräften endlich seien, drohe eine Verschiebung weg von der beruflichen Bildung. „Ich werde keinen Änderungen zustimmen, die auf dem Rücken der beruflichen Schulen, ihrer Schülerinnen und Schüler sowie ihrer Auszubildenden erfolgen“.
BLIX fragte nach bei Anja Reinalter, Professorin für Soziale Arbeit, MdB aus Laupheim, Sprecherin für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung der grünen Bundestagsfraktion. „Als Bundespolitikerin antworte ich hier entsprechend zurückhaltend, denn Schule ist in unserem föderativen System Aufgabe der Bundesländer und so auch die Frage, wie wir in Baden-Württemberg mit G8 und G9 umgehen“, teilt die Pädagogin mit. „Für mich persönlich ist es wichtig, dass wir Kinder und Jugendliche nach ihren Bedürfnissen fördern. Daher halte ich es für sinnvoll, weiterhin die Option zu haben, die Schule auch in acht Jahren abschließen zu können. Jedoch sollte weiterhin genügend Zeit für Berufsorientierung sein, damit die Jugendlichen nach ihrem Abschluss eine gewisse Orientierung haben. Ebenso stellt der Weg über berufliche Gymnasien immer einen guten Weg für ein G9-Abitur dar.“
Ein vierfacher Vater aus Ummendorf, der Architekt Alexander Eichner, meint angesprochen auf die Erfahrungen mit G8: “Unser ältester Sohn kam gerade zu Beginn der Einführung des G8 in das Gymnasium. Zunächst gingen wir damals als optimistisch eingestellte Eltern davon aus, dass sich mit Änderungen an unserem Schulsystem auch positive Auswirkungen auf die Wissensvermittlung ergeben könnten. Frei nach Goethe: ‚In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister.‘ Die Chance, sich in einer verkürzten Schulzeit auf effektivere Methoden des Lernens einlassen zu können, hätte sich aus meiner Sicht ergeben.“ Was aber nicht geschehen sei, kritisiert Eichner. Stattdessen „wurden ausgerechnet die Fächer Kunst, Sport und Musik, die in meinen Augen die wertvollsten Fächer für eine Verknüpfung von Wissensgebieten wären, zusammengestrichen und weiterhin mit einer zwanghaften Notengebung für viele Schüler uninteressant gemacht. Aus meiner Sicht sollte der ernsthafte Versuch unternommen werden, unsere Kinder als zukünftige ‚Problemlöser‘ in die Lage zu versetzen, ihr Wissen bereits in der Schule zu verknüpfen, ihr Interesse daran wachzuhalten, um somit bewusst ganzheitliche Lösungen entwickeln zu können.“ Sein Fazit: „Das Minimalziel von Schule wird sowohl mit G8 als auch mit G9 erreicht: In der Schule kommt man nicht umhin etwas zu lernen. Ob das jedoch genügt, die Wunschvorstellung der ‚Bildungsrepublik‘ Deutschland widerzuspiegeln?“
Autorin: Andrea Reck