Bechtenrot – Wahlen gewinnt, wer die Lufthoheit über den Stammtischen erobert. Diese Feststellung stammt angeblich vom damaligen CSU-Generalsekretär Erwin Huber anno 1989. Der Wahlkampfmanager verlieh damit den meist runden Tischen in den Wirtshäusern der Republik wahlentscheidende und damit machtpolitische Bedeutung. Lang ist’s her: die Mauer fiel und das Internet ermöglichte grenzenlose Kommunikation. Wozu noch analoge Stammtische, wenn die Welt ein virtuelles Dorf ist? Vielleicht weil der Schein das Sein nicht ersetzt. BLIX hat sich dazugesetzt. Eingeladen von Paul, dem Wirt der „Post“ in Bechtenrot, zum Frühschoppen am Sonntag von 10 bis 12 Uhr.
Mit dabei Andrea Reck als Fotografin. Sie ist an diesem sonnigen Morgen die einzige Frau in der kleinen Wirtschaft, was der Erwartung entspricht, schließlich geht es um ein Männerthema. Die „Post“, an der Durchgangsstraße zwischen Edenbachen und Erolzheim gelegen, leuchtet in der Morgensonne gelber als die Post erlaubt. Einst hielt hier die Postkutsche zum Pferdewechseln, heute hält der Bus. Er ist leer. Viele Passagiere wird es unter den 90 Dorfbewohnern auch unter der Woche wohl kaum geben. Aber die moderne Personenkutsche erscheint dennoch wichtig, denn außer einem hübsch renovierten „Spritzenhäusle“ und einer gepflegten, aber unzugänglichen Kapelle gibt es in dem Teilort der Gemeinde Erolzheim nur noch die „Post“. Geöffnet täglich außer donnerstags ab 15 Uhr, sonntags ab 10 Uhr, geschlossen wird, wenn der letzte Gast geht, in der Regel nicht später als 21 Uhr. Die Getränkekarte neben dem Eingang verrät, hier wird getrunken nicht gegessen, dafür aber gastfreundlich: die Halbe kostet schlappe 2,90 Euro, das Viertele 3,50 Euro, die Flasche Mineralwasser (0,75) nur 2,50 Euro.
Paul Ries (65) und seine Frau fühlen sich ihren Gästen verpflichtet, und Rentner schauen auf den Cent – auch weil sie müssen, weiß der Wirt. Der Empfang ist herzlich. Paul ist ein alter Freund aus Jugendtagen. Man weiß, wo der andere steckt, aber begegnet sich inzwischen meist nur noch bei Beerdigungen. Es ist diese Art Freundschaft, die besteht, auch wenn man sich Jahre nicht sieht. Paul, gelernter Stahlbauschlosser, hat 49 Jahre Industriearbeit auf dem Buckel, davon 45 Jahre bei demselben Unternehmen in Ochsenhausen, jetzt ist er in Rente. Mit seiner Frau war er sich einig, dass die „Post“ geöffnet bleibt, als der Schwiegervater 2005 starb. Von nun an waren sie die „Wirtsleit“, die dafür sorgten, dass man sich in Bechtenrot in der „Post“ auch weiterhin zwanglos zusammensetzen konnte. Und das soll so bleiben.
Das wird sie beruhigen, die Stammtischler und Frühschöppler, die sich die Woche über die Wirtschaft teilen. An diesem Sonntagmorgen sind es sechs, außer dem Bio- und Energiebauer Adalbert Harder (61) alle Rentner. Das ist der Lauf der Zeit, so scheint es. Denn mit ihren Gästen starb über die Jahrzehnte eine kleinteilige Wirtshauskultur in den Dörfern. Dementsprechend ist das Einzugsgebiet der „Post“ auch größer als der kleine Ort. Und seit im nahen Bonlanden der „Hirsch“ zu gemacht hat, kommen einige Frühschöppler auch vom Klosterort zu Paul.
Es war ein Ritual, dass die Herren der Schöpfung sonntags nach der Kirche zum Frühschoppen pilgerten. Und wer vorher die Predigt nicht gehört hatte, der hatte auch am Stammtisch nichts zu suchen. Aber pünktlich zur Mittagszeit, 12 Uhr, endete das bierselige Geschwätz, denn zuhause wartete der sonntägliche Schweinebraten. So war es. Und in der „Post“ ist es fast noch so, nur dass der Kirchgang nicht mehr Pflicht ist und statt dem fetten Braten auf Lothar Schätz ein magerer Toast wartet, der Linie wegen.
Der 72-Jährige war es auch, der per Mail die Einladung an den Journalisten übermittelte. BLIX sei Thema beim Frühschoppen gewesen, ließ er wissen. Sein Lob zu den interessanten Artikeln fand beim Gendern ein Ende. Das sei ein „rotes Tuch“ für ihn. „Wie kann man unsere schöne deutsche Sprache nur so verhunzen“, empörte er sich in seiner Mail. Die Kritik machte neugierig und lockte mich zum Frühschoppen in die „Post“, weil ich wissen wollte, was es auf sich hat mit Volkes Stimme am Biertisch, um dessen „Lufthoheit“ gekämpft wird.
Doch zunächst erfahre ich von Paul, dass jeder Stammtisch sich vom anderen unterscheidet, je nachdem, wer dabei mitschwätzt. Und Politik sei dabei meist nicht das wichtigste Thema. Es gäbe auch Runden bei denen sei Politik über das Kommunale hinaus verpönt. Der Wirt hat dafür eine plausible Erklärung. Es gäbe genug Probleme, und am Stammtisch suchten deswegen viele Unterhaltung und Zerstreuung, aber eben keinen Streit, höchstens Empörung über das Gendern zum Beispiel. Paul sieht dabei seine Aufgabe im Zuhören. „I hock me na und los zua.“ Seine Funktion ist eine soziale. „D’Leid missad sich d’Sorga au von dr Seele schwätza“, dabei nehme er jeden ernst, erklärt er seine Aufgabe.
Für Lothar Schätz war der Stammtisch in der „Post“ auch ein Zugang in das Dorf, in das er vor knapp 20 Jahren zog. Sein Zungenschlag verrät, dass er kein Schwabe ist. Sein Vater sei Rumäne, seine Mutter Polin und er „DDR-ler“, scherzt der gebürtige Sachse, der sein Arbeitsleben in Memmingen zugebracht hat. „Dem Mann muss man doch helfen“, lacht Adalbert Harder, der Biobauer. Damit ist das heikle Thema „Migration und Integration“ an diesem Sonntagmorgen in der „Post“ abgehandelt.
Harder spielt in der Runde eine besondere Rolle. Er ist Gemeinderat und „Großbauer“, hätte man früher gesagt, und die hatten das Sagen im Dorf und erst recht am Stammtisch. Aber Ehre, wem Ehre gebührt. Mit drei weiteren Bauern treibt der einstige Fußballer, ein Dutzend Einwürfe von der „Post“ entfernt, eine Biolandwirtschaft mit 300 Milchkühen und einer stattlichen Biogasanlage um, mit der die Bauern das Dorf seit 15 Jahren mit Nahwärme versorgen. In Eigeninitiative ohne Zuschüsse, wie Harder betont, und der Beschluss, das Projekt anzupacken, fiel in dem 30 Quadratmeter großen Gastraum der „Post“. Historisch also. Als Beweis holt Paul einen stattlichen Pokal, den das Dorf von Minister Haug als „Innovationspreis“ verliehen bekam.
Ironie der Geschichte. Während aktuell die Energiepolitik, neben dem Großthema „Migration“, landauf-landab zu heftigem Streit führt, hat das Energieprojekt in Bechtenrot das Dorf befriedet, nachdem es wegen der Flurbereinigung jahrelang tief zerstritten war, erinnern sich die Stammtischler. Und überhaupt, sagt der Bauer, sehe die Welt auch besser aus, wenn die Medien nicht immer das Negative in den Vordergrund rücken würden, und bricht eine Lanze für die ramponierte Ampel in Berlin. Noch vor einem Jahr habe man gezittert, ob das Volk nicht friert im Winter, das habe die Regierung „doch gut hingekriegt“. Und weil er gerade in Fahrt ist, lobt der Kommunalpolitiker auch gleich noch die viel geschmähte EU, der er zugute hält, dass „wir alle friedlich aufgewachsen sind“. Und überhaupt: „Man braucht eine Vision.“ Ja, stimmt ihm Roland Schmid (70) von der Stirnseite des Tisches zu, „wir jammern auf einem hohen Niveau“. „Da brauchen wir uns doch nicht über die Rechtspopulisten wundern“, zürnt Harder. Zahlt und verabschiedet sich. 12 Uhr. Der Frühschoppen in der zitronengelben „Post“ in Bechtenrot ist beendet. Paul lädt ein. Danke!
Autor: Roland Reck
Fotos: Andrea Reck