Der Krawattenzwang ist fast überall gefallen. Selbst Spitzenpolitiker, Banker und Nachrichtensprecher treten immer häufiger ohne den Kulturstrick auf, der am Hals den Bauch vom Kopf trennt.
Kleiderordnungen sind schon immer ständigem Wandel unterworfen, doch durch die Pandemie beschleunigte sich die Entwicklung. Laut der Deutschen Knigge Gesellschaft ist die Krawatte allerdings noch immer fester Bestandteil eines vollständigen Outfits, wenn man einen Anzug trägt, auch wenn es in Mode sei, Anzüge mit Hemden zu kombinieren, deren Kragen offen getragen wird.
Bereits in den Achtzigerjahren setzte eine Abkehr von der förmlichen Anzugmode ein. Die Kleidung wurde seither insgesamt sportlicher und lässiger, Bekleidungsvorschriften gelten in immer weniger Bereichen. Die Absatzzahlen von Krawatten sind dementsprechend schon seit Jahrzehnten rückläufig, allein zwischen 2013 und 2021 reduzierte sich der Umsatz mit Bindern in Deutschland laut einer Erhebung des Onlinestatistikportals Statista von 111 Millionen auf 70 Millionen Euro.
Etwa 4,2 Millionen Krawatten wurden in Deutschland 2022 nach Berechnungen des Gesamtverbandes der deutschen Textil- und Modeindustrie noch verkauft. 30 Jahre zuvor waren es noch mehr als 20 Millionen.
Selbst in Nachrichtensendungen sieht man heute Männer ohne Schlips. Undenkbar für den 2005 als Krawattenmann des Jahres ausgezeichneten früheren Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert: „Mit einer Krawatte verbinde ich den Respekt, den ich meinem Gegenüber zeige“, sagt der heute 80-Jährige. Er habe in einem sehr heißen Sommer die Tagesthemen auch mal ohne Jacke moderiert, aber nie ohne Krawatte. „Das verbat mir der Respekt gegenüber den Zuschauern.“
Wer hat’s erfunden?
Nein, nicht die Schweizer, deren Kräuterbonbons dem Schlund von innen schmeicheln, haben es kreiert, dieses längliche Stück Textilstoff, das mit einem Knoten um den (fast immer männlichen) Hals gebunden wird. Wobei es angeblich 180 verschiedene Knotenmodelle gibt. Nein, wie beim Schwarzpulver und bei Nudeln waren es die Chinesen. Im Reich der Mitte tragen Terrakottastatuen aus der Qin-Dynastie (221 – 206 v. Chr.) bereits eine Art Halstücher. Die ursprünglich dem Kälteschutz dienenden Halsbedeckungen entwickelten sich nach und nach zu dekorativen Elementen. Doch auch im antiken Rom schlangen Legionäre den „Focale“ um den Hals – ein längliches Stück Stoff zum Schutz vor der Kälte.
Das Wort Krawatte stammt vom kroatischen “hrvati“. Das krawattenartige Kleidungsstück wurde während des Dreißigjährigen Krieges im 17. Jahrhundert von kroatischen Söldnern in Frankreich populär gemacht. Da die Franzosen „hrvati“ nicht aussprechen konnten, nannten sie es „cravate“, eine Ableitung vom Wort Kroate. Am Hof des Sonnenkönigs Ludwig XIV. unterstrichen die Männer mit dem modischen Accessoire ihre Eleganz und ihren Status. Im 19. Jahrhundert wurde die Krawatte in England modern als „Four in Hand“. Der Begriff stammt aus der Kavallerie und beschreibt eine Art des Zügelgriffs, mit dem ein Reiter vier Pferde in einer Hand führen konnte. 1818 entstand das Stilhandbuch „Neckclothitania“, das illustrierte Anweisungen zum Binden von 14 verschiedenen Knoten enthielt. Bald darauf wurde das Geschick, das erforderlich ist, um die Krawatte in bestimmten Stilen zu binden, zu einem Zeichen für die Eleganz eines Mannes. Die Krawatte entwickelte sich in Bezug auf Material, Muster und Knotentechnik weiter. Im späten 19. und frühen 20. Jh. wurde sie fester Bestandteil der Geschäftskleidung, zum Symbol für Professionalität und Seriosität. Der Langbinder war typisch für „White-collar-worker“.
Fast schon ein bisschen affig
Noch heute sind Krawatten bei formellen, festlichen und geschäftlichen Anlässen gefragt. Ein zweiunddreißigjähriger Münchner Unternehmensberater bedauert das ein wenig: „Ich freue mich, dass bei Hochzeiten Krawatten noch gefragt sind. Ich trage sie gerne farblich passend zum Kleid meiner Freundin. Bei der Arbeit wirken Krawatten fast schon ein bisschen affig“.
So kommt auch der angesagte Business-Casual-Trend, der bei vielen Technologie-Firmen und Startups üblich ist, ohne Krawatte aus. Bei den Startups hat sich dafür der Kapuzenpulli-Look etabliert, der mitunter fast uniform daherkommt. Fallen die bekannten einheitlichen Signale weg, kann das auch zu Unsicherheit führen. Oder dazu, dass sich alle doch wieder ähnlich – diesmal leger – kleiden und einen neuen Dresscode schaffen. Die neue Lässigkeit kann zudem auch falsche Erwartungen bei den Beschäftigten schüren und zu Missverständnissen führen. Möglicherweise ist der Chef auch gar nicht so locker wie seine Kleidung suggeriert? Ebenso wie der Duz-Zwang hierarchische Strukturen nicht aufheben muss.
Vor allem Juristen, Politiker und Banker tragen sie noch. Andere setzten mit ausgefallenen Modellen modische Statements. Doch es geht auch ohne. Sogar im US-Senat sind Anzug und Krawatte nicht mehr obligatorisch. Diese offizielle Linie verkündete Ende September der demokratische Mehrheitsführer Chuck Schumer. Ex-Präsident Donald Trumps überlange rote Krawatten – man erinnert sich mit Grausen an den absurden Anblick – sollten wohl Macht, Stärke und Männlichkeit demonstrieren. Auch Englands Ex-Premier Boris Johnson liebt Krawatten, die weit über den Gürtel fallen.
Totgesagte leben länger. Die Krawatte hat angeblich ausgedient. Stand sie früher für männliche Selbstverwirklichung, wurde sie zeitweise zum Symbol des Spießertums. Doch letztlich ist der Schlips immer auch ein Phallus, ein Symbol männlicher Dominanz. Nur logisch, dass er traditionell den Männern zur Weiberfastnacht abgeschnitten wird, ehe die Frauen das Rathaus übernehmen. Doch mittlerweile müssen die Närrinnen am 11.11. oft richtiggehend suchen, bis sie ein Opfer finden, das noch Krawatte trägt.
Autorin: Andrea Reck